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FACE(LESS) I

Fotoforum Braunau
Eröffnung: 25. Juni 2010
Dauer: 26.6.–27.7.2010
Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen.
 
Joachim Froese, Ilse Haider, Pilo Pichler

Katalogvorwort, Petra Noll

In „Face(less) I“, der ersten von zwei Ausstellungen im Fotoforum Braunau im Jahr 2010 über das Porträt in der zeitgenössischen Fotografie und Videokunst, werden künstlerische Arbeiten gezeigt, die die Porträtfotografie auf unterschiedliche Weise in Richtung ‚Abstraktion‘ ausloten. Dabei handelt es sich sozusagen um ‚Gegenpositionen‘ zu dem ursprünglichen Anliegen der (Porträt-)Fotografie, möglichst realistisch abzubilden. Heute sind die meisten Porträts nicht mehr authentisch. Jedes Bild lässt sich durch die fortgeschrittene Technik schnell, einfach und billig manipulieren; im Porträt kann also der menschliche Körper bzw. das Gesicht verändert werden – und noch radikaler: ein Gesicht muss nicht einmal existieren, um abgebildet zu werden. Der Verlust des Glaubens an ein Bild geht einher mit dem Verlust des Gesichts. Diese zunächst nihilistische Feststellung kann insofern ins Positive gewendet werden, als nun der Zeitpunkt gekommen ist, wo das Genre – das Porträt als Medium der Identität – ganz intensiv hinterfragt und neu konstituiert werden kann. In den Foto- und Videoarbeiten dieser Ausstellung sind die Menschen entweder gar nicht sichtbar (‚faceless‘) oder sie sind verfremdet, also abstrahiert, verzerrt oder unscharf dargestellt. Bei den vorstellten Positionen handelt es sich um konzeptuell entwickelte, erweiterte Porträts, die sich mit Präsenz und Absenz gleichermaßen auseinandersetzen.
Die Farbfoto-Serie „Portrait my mother“ von Joachim Froese gehört in die Kategorie des ‚pars pro toto‘: Menschen werden durch stellvertretende Gegenstände dargestellt. Auf den Fotografien ist kein abbildhaftes, nicht einmal ein abstrahiertes Porträt der Mutter des Künstlers zu sehen. Ihr ‚Ich‘ wird vielmehr charakterisiert durch Dinge aus ihrem persönlichen Besitz. Um seine Mutter zu porträtieren, hat Froese ihr Bücherregal fotografiert, gefüllt mit Büchern, die die fleißige Leserin in ihrem Leben gesammelt hat, und mit persönlichen Gegenständen. Entstanden ist diese Arbeit im Jahr 2006, als der Künstler seine krebskranke Mutter bis zu deren Tod begleitete. Das Projekt wurde gemeinsam entwickelt, denn Joachim Froese hat nicht nur fotografiert, sondern sich auch mit seiner Mutter über deren Bücher, die Autoren und ihre Weltsicht unterhalten. Der Computer stand immer neben dem Krankenbett, gleich hier wurden die einzelnen Fotografien montiert. Als die Mutter starb, war eine 30 Meter lange Reihe mit insgesamt 93 Farbfotografien entstanden, von denen hier ein Teil in der intimen räumlichen Situation des Stadttorturms gezeigt wird.„Das Ergebnis“, so Froese zu dieser ebenso konzeptuellen wie auch persönlichen Arbeit, „zeigt einen eklektischen Querschnitt durch die Literatur. Doch mehr als das ist es zu einer Manifestation der Frau geworden, die sie war – eine Metapher für das Leben und ein Tagebuch der Zeit, die ich mit ihr verbrachte – ein Porträt meiner Mutter.“
In der Rauminstallation „Facebook NS“ von Ilse Haider findet formal eine Dekonstruktion des Mediums „Porträt“ statt: Die Fotoobjekte geben ein verzerrtes Bild der Dargestellten, das sich jeweils nur an einem Punkt im Raum zusammenfügt, und die Porträts im Video bleiben, da es sich um anonyme Personen handelt, fragmentarisch. Bei den Porträts der Objekte handelt es sich um „öffentliche“ Personen, um Schauspielerinnen und Sängerinnen aus der Zeit des Nationalsozialismus (NS). Sie sind in ihrem biografischen Kontext dargestellt (Infokästen). Ausgangspunkt und Hauptfigur ist Marlene Dietrich, über deren Netzwerk weitere Künstlerinnen gefunden wurden. Für die Auswahl war die „sprunghafte“ Verlinkungs-Charakteristik des www vorbildhaft. Durch sie kamen auch Informationen über weitere Mitglieder der jeweiligen „Community“ – unbekannte wie höchst bekannte – zum Vorschein, die den Rezipienten zur Interpretation angeboten werden. Demgegenüber stehen anonyme Porträts aus den 1930er/1940er Jahren eines unbekannten Fotografen, entnommen von historischen Glasnegativen. Gleichfalls medial aufbereitet (Video), stellen sie den Gegenpol im „alltäglichen NS“ dar. Die slapstickartigen Bewegungen, die bei der medialen Umsetzung der Porträts einmontiert wurden, sind zunächst als bewusst gewählte Trivialisierung des „alltäglichen NS“ zu verstehen. Die ironischen, z.T. irrationalen Eingriffe schaffen jedoch eine Neukontextualisierung und lösen das Bildmaterial aus seiner Erstarrung.
In den Fotoarbeiten von Pilo Pichler liegen Dekonstruktion und Konstruktion nah beieinander. In seinem im Jahr 2002 begonnenen, konzeptuellen work-in-progress-Projekt „family affair“, großformatigen Schwarzweiß-Porträts, geht er mit den Mitteln der Täuschung vor. Wir glauben im ersten Moment, Kopfporträts von Einzelpersonen zu sehen. Dann aber bemerken wir, dass die Porträts leicht verschoben und wie mit einem Schleier überzogen zu sein scheinen. Außerdem vermischen sich weibliche und männliche, kindliche und erwachsene Gesichtsmerkmale. Tatsächlich handelt es sich um Fotomontagen: Pilo Pichler hat mehrere analog fotografierte Fotos von Familienmitgliedern am Computer zu jeweils einem Porträt zusammengefügt. Das Endergebnis ist das Gesicht einer einzelnen, so nicht existierenden Person. Einerseits geht dadurch der Individualismus des einzelnen in der Masse auf, andererseits findet eine stärkere Charakterisierung der Einzelperson dadurch statt, dass sie als Teil eines Ganzen präsentiert wird. Die kollektiven Erfahrungen haben bei jedem Familienmitglied Spuren hinterlassen. Jeder lebt im Gesichtsausdruck des anderen, drückt sich durch diesen aus und prägt ihn andererseits auch wieder. Ein Gesicht geht verloren, ein neues entsteht – das ist symptomatisch für Vorgänge einer durch Computertechnik und Hochleistungs-Medizin geprägten Gegenwart.
Im Abstand von zehn Jahren möchte Pilo Pichler die Familienporträts wiederholen.

 
 

1) Joachim Froese, aus: Portrait of my mother, 2006, C-Prints, je 35 x 30 cm
2) Raumansicht Joachim Froese
3) Ilse Haider, Gitta Alpar (ungar.-jüd. Sängerin, 1903–1991), Fotoemulsion auf Holz und Peddigrohr, 2010, 80 x 60 x 15 cm.
4) Raumansicht Ilse Haider, Facebook NS, Installation, 2010: Fotoobjekte (Fotoemulsion auf Holz) mit Porträts von Gitta Alpar, Fritzi Massary, Lilian Harvey und  Renate Müller, Glasplatten aus den 1930er- bis 1940er- Jahren, Video, 2 Min.
5)  Pilo Pichler, aus der Serie family affair, 2005–2008, Fotomontage, 100 x 70 cm  
6) Raumansicht Pilo Pichler