Skip to main content

wahre Gefühle

Fotoforum Braunau
Eröffnung: 11. Mai 2006
Dauer: 12.5.–11.6.2006
Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen.

Tassilo Blittersdorff, Verena von Gagern, Gernot Lindner, Reinhart Mlineritsch, Janna Riabowa-Leitl, Anne Katrin Schreiner

Katalogvorwort, Petra Noll:

Die aktuelle Diskussion um eine „Neue Romantik“ in der zeitgenössischen Kunst aufgreifend, werden im Jahr 2006 im „Fotoforum Braunau“ zwei Ausstellungen gezeigt. „Wahre Gefühle“ ist der Titel
der ersten Ausstellung mit Arbeiten von sechs österreichischen und deutschen KünstlerInnen. „Wahre Gefühle“ – in diesen beiden Worten, die als sich im Grunde ausschließende Extreme aufeinanderprallen, liegt die ganze Problematik der Auseinandersetzung mit Romantik, aber auch mit Kunst. Emotionalität und realistische Genauigkeit („Wahrheit“) widersprechen sich. Sie zusammenzubringen, das ist im Alltag schwierig, vielleicht nur in der Kunst möglich. Nur im Zusammenbringen beider Positionen kann heute eine Romantik-Auseinandersetzung glaubhaft sein. So werden bei den hier vorgestellten künstlerischen Positionen durchaus sogenannte „romantische“ Stilmittel wie das „Malerische“– bis hin zur Auseinandersetzung mit Grenzbereichen wie Kitsch, Sentimentalität und Pathos – verarbeitet, sowie „typisch romantische“ Motive wie die Landschaft, ursprünglich Fokus für „Idylle“, eingesetzt. Dies geschieht aber immer mit Abstand, Emotion und „Wahrheit“, Brüche, Unstimmigkeiten, Ambivalenzen miteinbeziehend. Trotz aller Unterschiedlichkeit der Zugehensweise haben die Arbeiten gemeinsam, dass es weder um eine nostalgische Rückwendung zur historischen Epoche der Romantik, noch um den Beweis einer „neuen Innerlichkeit“ und ebensowenig um die Schaffung fiktiver Phantasiewelten und Utopien geht. Die Positionen sind kritische Beiträge zu einer von Zeitforschern, Kuratoren und Philosophen ausgemachten „verstärkten Suche des Menschen nach Vollkommenheit und idyllischer Schönheit“ (Roger M. Buergel, documenta XII-Leiter). Die Fotoarbeiten befinden sich jenseits der Idylle und sind dennoch nicht auf der Realitätsebene des Alltags. Die Realität wird im wahrsten Sinne des Wortes „in einem neuen Licht gesehen“. Das Abseitige, das Banale,
das Flüchtige, Fragmentarische und Unscharfe, besondere Lichtverhältnisse, die Schwarz-Weiß-Technik bei verschiedenen Arbeiten sowie eine aktualisierte Raumauseinandersetzung spielen eine große Rolle. So sind die Arbeiten Untersuchungen von Licht, Zeit und Raum und von Fotografie als Medium zwischen Realität und Fiktion.
Gernot Lindners poetisch-malerisch wirkende, unpathetische Fotomontagen („relating photographs“) aus zwei menschenleeren, von weitem fotografierten, waagerecht geschichteten Landstrichen zu einem neuen, flächigen Bild, sind Auseinandersetzungen mit Komposition und Raum sowie mit dem Übergang von Realität und Fiktion. In seinen formal strengen Videos kommen die Komponenten Bewegung, Ton und Zeit hinzu. Es geht Lindner um Polaritäten, um Konstruktion und Emotion, Raum und Fläche, Nähe und Ferne, Architektur und Natur, Geräusch und Stille, Bewegung und Ruhe.
Anne Katrin Schreiners großformatige Farbfotografien zeigen real existierende, aber künstlich angelegte Orte, die „schöne“ Gefühle erzeugen und die Sinne berauschen – „Paradiese“ auf Erden wie Jahrmärkte und Vergnügungszentren, aber auch Zoos, Botanische Gärten, Aquarien und Tropenhäuser wie in der in dieser Ausstellung gezeigten Serie „Fernweh“. Hier wird die Sehnsucht nach der Ferne, nach Exotik und Idylle für kurze Zeit befriedigt. Die Arbeiten sind eine Auseinandersetzung mit dem Grenzbereich von Illusion und Wirklichkeit – „wahre Gefühle“.
In klassischer Schwarz-Weiß-Technik mit starken Hell-Dunkel-Kontrasten fotografiert
Reinhart Mlineritschs Landschaften, Architekturen und Alltagsdinge. Aus mehreren Serien wurden für diese Ausstellungen Arbeiten ausgesucht, denen eine gebrochene Ästhetik zugrunde liegt. Schöne Naturaufnahmen entpuppen sich als Plastikabfall, Bauschutt oder Baggerspuren. In diesen „unromantischen“ Spuren der Zivilisation sieht der Künstler das Poetische, eine fast unwirkliche Schönheit. Durch raffinierte Aufnahmetechnik verschwimmen Größen- und Zuordnungsverhältnisse, so dass Bilder von hoher Abstraktion und voller Geheimnis entstehen.

Die Fotoarbeiten von Janna Riabowa basieren auf Filmen der 30er Jahre
des 20. Jahrhunderts. Die Bilder wurden aus ihrem Kontext gelöst, die Motive durch Unschärfe und besondere Lichtverhältnisse an die Grenze der Erkennbarkeit gebracht. Diese Abstraktion verhindert eine eindeutige Zuordnung von Zeit, Raum und Inhalt, ohne dass der Bezug zur Realität verloren geht. Die atmosphärischen Aufnahmen und Videos von Riabowa wirken „romantisch“, aber diese Romantik ist brüchig, denn die Bilder sind rätselhaft, geheimnisvoll, vieldeutig interpretierbar, irritierend uneindeutig.
Tassilo Blittersdorff zeigt Bilder von Stadttoren aus dem 2003 begonnenen work-in-progress-Projekt „Nowa Huta“(sozialistische Planstadt bei Krakau, ab 1949), deren Architektur er in verschiedenen Techniken reflektiert. Ausgehend von einem Foto, entstehen Cyanotypien (Blueprints) „romantische Malereien“, lyrische Zeichnungen, ausdrucksstarke Linolschnitte. Die Bilder zeugen von einer gescheiterten Utopie, aber auch von der Schönheit einer aus Geldmangel wenig veränderten,
noch immer lebendigen Stadt. Eine Untersuchung des Spannungsfeldes verschiedener Bild-Medien, eine Auseinandersetzung mit Illusionismus und Originaltreue.
Die Fotografin Verena von Gagern beschäftigt sich mit der Veränderung der Wirklichkeit durch verschiedene Licht-, Zeit- und Raum-Situationen. Der oft extreme Fokus auf Details, ungewöhnliche Schnitte, starke Hell/Dunkel- oder Schärfe/Unschärfe-Kontraste lassen „romantische“ Bilder einer abstrahierten, unverklärten Wirklichkeit entstehen. Hier sind es Blicke auf und gleichzeitig aus Fenstern in ihrem Hof in Harpfing/Ndb. und in Türmen der chinesischen Mauer, eine Auseinandersetzung mit innen und außen und eine Referenz an viele vorangegangene Fensterbilder der Kunstgeschichte.

 
 
1) Tassilo Blittersdorff, aus der Serie "Die Tore von Nowa Huta", 2003–2005, Öllasur/Eitempera-Bild auf Leinwand, 30 x 40 cm
2) Verena von Gagern, aus der Serie "Ansichten eines Fensters", 1997, SW-Fotografie, Baryt
3) Gernot Lindner, "BSW I", 2000, 2 C-Prints auf Aludibond, 115 x 87 cm
4) Reinhart Mlineritsch, "Bischofshofen/Salzburg", 2000, SW-Fotografie, Baryt, 37 x 47 cm
5) Janna Riabowa-Leitl, aus: "Liebe in Zeiten der Flut", Nr. 2, 2002/03, Still aus Video
6) Anne Katrin Schreiner, aus der Serie "Fernweh", Nr. 2, 2003, C-Print auf silberfarbenem Untergrund, Alu, Dibond, 80 x 120 cm