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VATER, MUTTER, KIND – die Familie in der zeitgenössischen Kunst

Galerie im Stadtmuseum Neuötting/DE
Ludwigstr. 12, 84524 Neuötting/DE, T +49 8671-8837113
www. museum[at]neuoetting.de
8.5.–20.6. 2010
Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen.
KünstlerInnen: Alfred Bachlehner/AT, Helena Becker/LI, Eva Brunner-Szabo/AT, Helga und Kerstin Cmelka & Robert Svoboda/AT/DE, Verena von Gagern/DE, Robert F. Hammerstiel/AT, Moni K. Huber/AT, Paul Kranzler/AT, Katharina Mayer/DE, Pilo Pichler/AT, Alexander von Reiswitz/DE, Michael Sardelic/AT, Martin und Zora Walch/LI, Ursula Zeidler/AT
Vernissagenrede am 7.5.2010, Petra Noll:

Nach Ausstellungen über das Ding, das Spiel und das Tier in der zeitgenössischen Kunst, widmet sich meine vierte Ausstellung hier dem Menschen, speziell der Familie. Wenn es in den vorangegangenen Ausstellungen natürlich auch immer in erster Linie um den Menschen ging, wird er doch erst in dieser Ausstellung zum Thema Familie verbildlicht. Ich zeige künstlerische Arbeiten aller Medien von Künstlerinnen und Künstlern aus Österreich, Deutschland und Liechtenstein, viele davon zum ersten Mal.
Die Familie – im engeren Sinne versteht man darunter die Gemeinschaft der verheirateten Eltern und ihrer Kinder, also die Kleinfamilie, und im weiteren Sinne die „Gruppe aller miteinander verwandten Personen“, die Großfamilie oder Sippe. In der heutigen Zeit wird dieses traditionelle Modell vielfach durch andere Lebensformen wie Patchwork-Familien, Lebenspartnerschaften mit (adoptierten) Kindern und Alleinerziehung ersetzt. Die Familie, in welcher Form auch immer, ist der kleinste, aber einer der wichtigsten Vermittler sozialer und ethischer Werte. Sie bedeutet einerseits Liebe, Geborgenheit, Sicherheit und Zusammenhalt, aber auch Autorität, Abhängigkeit, Maßregelung und Rollenfixierung. Gerade heute, wo soziale Not, hohe Scheidungsraten, häusliche Gewalt, erhöhte Generationenkonflikte und Kindesmissbrauch den ungetrübten Blick auf das Lebensmodell „Familie“ verwehren, kann auch der Blick zeitgenössischer KünstlerInnen nur ein ambivalenter sein.
Einige Künstler beschäftigen sich in diesem Zusammenhang mit dem Gruppenporträt und finden hier neue Zugangsweisen im Vergleich zum traditionellen Genre, wo die Familienmitglieder zum Zweck der positiven Erinnerung an ein gemeinsames Treffen – auch wenn dieses alles andere als harmonisch verlief – „wohl geordnet“ aufgestellt und zum Lächeln animiert werden. In ihrem Projekt „familia“, fotografiert Katharina Mayer (Düsseldorf) Familien in ganz Europa in ihrem persönlichen Wohnumfeld. Sie stellt diese zu außergewöhnlich arrangierten, manchmal lustigen, skurrilen oder absurden Gruppenporträts zusammen. In Gestik, Mimik und Körpersprache der Familienmitglieder, aber auch in deren Anordnung im Raum artikuliert sich die in allen Familien zu findende Bandbreite von Zuwendung, Berührung und Vertrauen bis hin zu Distanz und Konflikt. Pilo Pichler (Wien) zeigt Arbeiten aus seinem Projekt „family affair“: das sind ganz ungewöhnliche Gruppenporträts, da hier SW-Fotos der einzelnen Familienmitglieder, Eltern und Kinder, übereinandergelagert wurden. Die Summe der einzelnen Gesichter mit den Spuren ihrer Erfahrungen und Erlebnisse – auch mit den anderen Familienmitgliedern – ergibt jeweils das Porträt einer einzelnen, fiktiven Person mit einer ganz besonderen Ausstrahlung. Alexander von Reiswitz begann 2005 in Tokio das SW-Fotoprojekt „family constellation“, für das er in zahlreichen Ländern Familien fotografiert. Diese sehen aus wie schön arrangierte Gruppenaufnahmen fürs Familienalbum. Nur – bei den Familien handelt es sich nicht um „echte“ Familien, sondern um vom Künstler auf der Straße ausgewählte Personenen unterschiedlicher Generationen, die sich zuvor nicht kannten und die er für ein Foto zu einer Familie zusammenstellt. In diesem Projekt geht es um die Auseinandersetzung mit Wahrheit, Wirklichkeit und Zufälligkeit bzw. mit der Glaubwürdigkeit von Fotografie und damit auch der „Familienporträts“. Helena Becker (Liechtenstein) arbeitet in dem im Kunstkontext immer noch ungewöhnlichen Medium „Scherenschnitt“. Ihre figurenreichen, detailgetreu geschilderten Interieurs sind soziale Studien zum Familienleben, das häufig alles andere ist als eine „heile Welt“. Gerade das Szenario „Familienfeier“ birgt aufgrund des oft aufgesetzten Wunsches nach Harmonie besonderes Konfliktpotential. Die Familie ist eines der großen Themen von Robert F. Hammerstiel (Wien) innerhalb seiner Auseinandersetzung mit den Sehnsüchten und Ängsten der Menschen. Auf ihrer ständigen Suche nach Glück und Sinn im Leben bilden Menschen sich Strukturen von Ordnung, die Harmonie, Sicherheit, Geborgenheit und Orientierung gewährleisten sollen. „Alles in bester Ordnung IV“ ist ein Videofilm, den er in einer Installation mit originalgroßem Gartenhaus gedreht hat. Schauspieler spielen in ständig wiederkehrenden, stereotypen Handlungsabläufen die Rollen von Vater, Mutter und zwei Kindern an einem typischen Familien-Freizeitort. Die Ordnung und Idylle, die Menschen sich schaffen, zwingt sie in ein abgegrenztes „Paradies.
Es müssen aber nicht immer Gruppenporträts sein, die etwas über die Familie aussagen. Familiäre Strukturen lassen sich auch ablesen an den Räumen, die man sich eingerichtet hat, an den Tischen, an denen gegessen wird, an den Dingen, mit denen man sich umgibt, an den Spielsachen der Kinder oder am Haustier, mit dem die Familie lebt. In ihrem Projekt „Totenhemd“, in dem sich Eva Brunner-Szabo (Wien) mit ihrer verstorenen Großmutter auseinandersetzt, taucht diese nie selbst auf. Eine Serie des Projekts zeigt z.B. die verschiedenen Zimmer ihrer Wohnung, in der sie ihre Sitzplätze mit Kissen als solche markiert hat. Martin Walch und seine 6jährige Tochter Zora Walch (Liechtenstein) präsentieren einen Teil ihres familären Haushalts, eine Kinder-Bügelstation, auf der sich Berge präzis gebügelter Taschentücher stapeln. Diese Arbeit reflektiert ironisch ein geschlechtsspezifisches Klischee: das Mädchen wird zur Hausarbeit herangezogen, um es schon frühzeitig auf ihre Rolle als Hausfrau vorzubereiten.
Einige der Künstler bringen ihre eigene Familie ins Spiel und sagen über ihre persönliche Familiengeschichte hinaus gleichzeitig Allgemeingültiges aus über die Institution „Familie“. Oder es wird in Zusammenarbeit mit Mitgliedern der eigenen Familie eine künstlerische Arbeit realisiert. In diesem Zusammenhang wurde bereits Eva Brunner-Szabo erwähnt, die sich mit ihrer verstorbenen Großmutter auseinandergesetzt hat, wobei es ihr nicht um die präzise Charakterisierung geht, sondern vielmehr um Themen wie Erinnerung, Vergessen und Verschwinden. Alfred Bachlehner bezieht sich in einer Serie von Familienporträts im alltäglichen Ambiente einerseits auf Erinnerungen an die eigene Kindheit, andererseits spricht er eine Thematik an, die in vielen Familien verdrängt wird: die Aufarbeitung der NS-Zeit, die oft die Generationen entzweit. Oberflächlich gesehen sind es friedliche, harmonische Bilder von Vater und Sohn bzw. Großvater und Enkel. Unaufdringlich hat Alfred Bachlehner aber kleine Zeichen der Irritation, die Bedrohung signalisieren, eingefügt: z. B. ein unter den Tisch gezogenes Hitlerbild, ein blasses Hakenkreuz auf einem Päckchen. Michael Sardelic (Ried) fertigt – ausgehend von seiner persönlicher Betroffenheit über die fortschreitende, lebensbedrohende Krankheit seiner Tochter und dem dadurch geprägten Familienleben – seit Jahren fotografische Porträts von ihr und anderen Menschen in seelischen und körperlichen Konfliktsituationen. Die Arbeiten der Serie „Dress Stories“ bestehen aus im Raum stehenden, aber zweidimensional bleibenden Anziehfiguren in Lebensgröße und den dazugehörenden, an der Wand angebrachten, mit weißen Laschen versehenen Kleidungsstücken in gleicher Körperhaltung. Gekrümmte, abgewandte Körper, gesenkte Köpfe sowie Arme oder Hände vor dem Gesicht sprechen von Ängsten, Unsicherheit, Verlegenheit und Einsamkeit. Von Helga Cmelka, ihrem Mann Robert Svoboda (Brunn und Wien) sowie ihrer Tochter Kerstin Cmelka (Berlin) stammt das Video „Mikromusical 1“, in dem sie sowohl die Künstler als auch die Protagonisten der Darstellung sind. És handelt sich um ein musikalisches Volksstück, in dem eine Mundartgeschichte von Robert Svoboda und ein Wiener Heurigenlied – die Familie ist mit einer Heurigenfamilie verwandtschaftlich verbunden – theatralisch kombiniert und in einem häuslichen Rahmen inszeniert werden. Diese gemeinsame Aktivität, die einerseits Lachkrämpfe auslöste und andererseits kritisch die Wurzeln reflektiert, war in dieser Familie immer Programm.
Schon eine Klassikerin ist Verena von Gagern (Kirchdorf). Von ihr zeige ich Fotos ihrer Kinder aus den 70er Jahren. Es sind nicht Kinderbilder im dokumentarischen Sinn und mit physiognomischer Genauigkeit, sondern vielmehr emotionale Stimmungsbilder. Sie zeigen bereits das, was für die Künstlerin auch in den folgenden Jahren prägend sein sollte: die Auseinandersetzung mit der Veränderung der Wirklichkeit durch unterschiedliche Lichtverhältnisse. Paul Kranzlers (Linz) Serie mit dem Titel “Brút” umfasst Fotografien und Dias von seiner Familie sowie von den mit dem Familienleben verbundenen Orten und Gegenständen – Zeugen persönlicher Erinnerungen. Es sind Fotos, wie sie an einer Wohnzimmerwand hängen könnten und sind auch deshalb so bunt gemischt installiert. Deutlich zu spüren ist einerseits die persönliche Berührtheit und Zuneigung des Künstlers zu seiner Familie in den teilweise sehr intimen Porträts, aber auch die ironische Brechung mancher Situationen. Die Couch und die Diaprojektion verweisen auf die üblichen familiären Diaabende.
Einige Künstler, so haben wir gesehen, haben – mit den unterschiedlichsten Intention – dem Thema Familie langjährige Projekte gewidmet, so Verena von Gagern, Paul Kranzler, Katharina Mayer, Pilo Pichler, Alexander von Reiswitz und Michael Sardelic. Auch Ursula Zeidler (Reut) beschäftigt sich schon seit vielen Jahren mit dem Thema Familie. Sie zeigt Gruppenporträts von Familien, aber auch Fotos von einzelnen Mitgliedern von Familien. Ursula Zeidler kommt aus der fotojournalistischen Richtung. Scheinbar beiläufig, nie indiskret, ohne zu werten, aber mit Sinn für leise Situationskomik nähert sie sich ihren Protagonisten.
Ein Thema kann immer auch ein Anlass sein, kunstimmanente Probleme zu behandeln, wie wir bei Verena von Gagern gesehen haben. Moni K. Huber (Wien) beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Mensch und Raum, wobei auch das Thema Familie zum Tragen kommt. Die Menschen in Moni K. Hubers Bildern befinden sich in für eine begüterte Freizeitklasse konzipierten Räumen, in denen sie seltsam verloren erscheinen. Das Szenario ist das der Kommunikationslosigkeit zwischen Menschen und des Ausgeliefertseins in von der Konsumindustrie vorgegebenen Wohn- und Lebensvorstellungen.

 
 
1) Michael Sardelic, Dress Stories - Layers No 54, Inkjetprints auf Decolit, mehrteilig, 2008
2) Eva Brunner-Szabo, aus: Totenhemd (Aktion 2), Pigmentierte Tinte auf Leinwand, Keilrahmen, 2007
3) Helga und Kerstin Cmelka, Robert Svoboda, Micromusical # 1, Digitalvideo, ca. 10 min, 2009.
4) Alfred Bachlehner, Heimkehr, Öl auf Leinwand, 2005
5) Verena von Gagern, aus einer Serie, SW-Fotografie, Baryt, 1975
6) Robert F. Hammerstiel, Happy Days, C-Print auf Aluminium, 120 x 120 cm, 2004 (li) + Landnahme, C-Print auf Aluminium, Wurzelholzrahmen, 1994
7) Robert F. Hammerstiel, Alles in bester Ordnung IV, Videoloop, 19’30“, Ton, 2007
8) Moni K. Huber, In der Baufirma I, Öl auf Leinwand, 2007 (li), Der transatlantische Hund I, Öl auf Leinwand, 2005
9) Paul Kranzler, aus Brút, C-Prints, versch.  Formate, und Diaprojektion, 2007/08, Couch
10) Katharina Mayer, Familie Bishop, C-Print, Diasec, 2005 (li), Familie Pfingsten, C-Print, Diasec, 2007
11) Martin und Zora Walch, Bügelfalten, Installation mit Kinder-Bügelbrett, Kinder-Bügeleisen und Taschentüchern, 2009
12) Pilo Pichler, aus: family affair, Fotomontagen, 2005-2008 (hinten li)
13) Alexander von Reiswitz, aus: family constellations,  Vintage Gelatine Silver Prints, Handabzüge auf Barytpapier (hinten li), Ursula Zeidler, SW-Fotografien (re)