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sightSEEING II

Fotoforum Braunau

Eröffnung: 14. Oktober 2016

Dauer: 15.10. bis 13.11.2016

Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen.

Carla Degenhardt, Katharina Fröschl-Roßboth und Franz Ramgraber
 
Rede zur Eröffnung am 14.10.2016, Petra Noll-H.:

Diese Ausstellung ist der zweite Teil von zwei Ausstellungen zum Thema „Sehen“ – „sight-SEEing“ also nicht gemeint in Bezug auf die Besichtigung von Kunstdenkmälern, sondern als Auseinandersetzung mit dem Sehsinn. Das Sehvermögen, die visuelle Wahrnehmung, wird meist als der für unsere Erkenntnis wichtigste menschliche Sinn verstanden: „Wir glauben nur, was wir sehen“. Bei Platon hat das Sehen sogar „göttlichen Status“. Und dennoch: Wichtige Phänomene der Realitätseinschätzung – beispielsweise die Zeit oder unser Inneres – können nicht gesehen werden. Viele Dinge unseres Lebens sehen wir nur mit Sehhilfen. – Was wir als Bilder sehen, ist vor allem Interpretation unseres Gehirns, Resultat von Denkpro-zessen, Erfahrungen und Wissen. „Das Sehen ist also als inneres Sehen ein Verstehen, das uns immer begleitet und ohne das wir nicht sein können. Aus diesem Grund verstehen auch Blinde nur zu gut, was Sehen heißt. Sehen heißt Denken“ (Norman Schultz). Sind wir also offen dafür, die Grenzen des Sehens nicht zu eng zu stecken und beispielsweise Blindheit nicht als Einschränkung, sondern als zusätzliche Möglichkeit zu sehen, erreichen wir einen neuen Aspekt von Visualität.  In der zweiten Ausstellung geht es vor allem darum, Unsichtbares bzw. das, was man „in sich sieht“ zu visualisieren. Das geschieht zum einen in Form von filmischen und fotogra-fischen Darstellungen von physisch Blinden, deren ganz andere „Sichtweisen“ dem allgemei-nen Verständnis von Sehen neue Wahrnehmungsaspekte hinzufügen, oder durch abstrakte Bildresultate, die durch ihren assoziativen Charakter die Grenzen des Sehens erweitern und neue Aspekte von Visualität eröffnen.

Carla Degenhardt stammt aus Buenos Aires; sie lebt und arbeitet in Wien. Degenhardt präsentiert unter dem Titel Blinde Taste zwei hintereinander geschaltete Videos von 2003 als Projektion. Sie ist mit zwei Blinden jeweils denselben Weg gegangen – die Praterstraße in Wien von Hausnummer 0 bis 20. Dazu benötigte die mit 20 Jahren erblindete Eva Papst 15 und der geburtsblinde Erich Schmid 45 Minuten. Nicht nur die Dauer, sondern auch die Vorgehensweisen der beiden sind sehr unterschiedlich. Eva Papst, die sich mehr am Gehen mit dem Stock orientiert, trägt eine Videokamera auf Hüfthöhe; sie erklärt und interpretiert sehr viel. Erich Schmid nimmt in erster Linie wahr, braucht mehr Zeit, konzentriert sich sehr stark auf Geräusche und überlässt dem Betrachter weitgehend die Interpretation. Er hält die Kamera in der Hand. Die Videokamera als „künstliches Auge“ erfasst jeweils den von beiden nicht gesehenen Raum. Sie sprechen, ohne dass wir ihr Gesicht seh-en, über ihre räumlichen, aber vor allem über ihre vom Nicht-Sehen geprägten Eindrücke und Empfindungen. Die BetrachterInnen werden sozusagen von Blinden geführt und bekommen ganz neue visuelle Angebote – fragmentarische, poetische Bilder von Räumen, die sie so nie gesehen hätten. Die üblichen Vorstellungen vom Sehen werden grundlegend ins Wanken gebracht: „Wenn das Bild neu ist, ist auch die Welt neu“, so der französische Philosoph Gastón Bachelard (gest. 1962). Und wir müssen uns die Frage stellen, wie geduldig oder ungeduldig wir in Bezug auf Langsamkeit, verzögerte Wahrnehmung und damit auch Behinderung anderer sind. – Zu der Projektion wird auf einem flatscreen die ebenfalls 2003 aufgenommene Video-Dokumentation blinterview in einer Länge von 50 Minuten gezeigt, in dem die beiden Blinden, deren Gesichter man hier erstmals sieht, über ihre Geschichte und Erfahrungen mit dem Blindsein erzählen. Sie sprechen von ihrem „inneren Auge“, und wir erfahren von beiden, dass ihre Vorstellungen von der sie umgebenden Umwelt weniger Bilder im Kopf kreieren als Empfindungen und Eindrücke wecken.

Katharina Fröschl-Roßboth wurde in Grieskirchen geboren, ist in Ried aufgewachsen und lebt und arbeitet in Wien. Wie auch Carla Degenhardt hat sie sich die Aufgabe gestellt, das Sehen an sich bildlich darzustellen. Sie zeigt die Serie Einblicke, die von blinden Menschen mit unterschiedlichem Alter, Geschlecht und Herkunft entstanden ist. Je einer Person werden zwei Fotografien zugeordnet – das eine ist jeweils ein Porträt mit Fokus auf das Gesicht, das andere eine Inszenierung im jeweiligen Wohn- oder Arbeitsraum. Hierbei haben die ProtagonistInnen Position und Kleidung selbst gewählt. Kurze, den Bildern zugeordnete Texte der Künstlerin beschreiben Ausstrahlung, Besonderheiten, Interessen und Verhalten der Dargestellten. Selbstbewusst agieren und präsentieren sie sich in der Umgebung, in der sie leben, diese aber nicht sehen – genauso wenig wie die Fotografin. – In die Position von Blinden und damit in andere Wahrnehmungsstrukturen begibt sich die Künstlerin in ihrem ebenfalls hier präsentierten Projekt 24 unsichtbare Stunden, bestehend aus 36 Prints auf Kappa auf Leuchtkasten, für das sie am 10. Februar 2011 ihre Augen für 24 Stunden geschlossen hielt. Das Sehen überließ sie einer Black-Fly-Kamera, einer leicht zu handhabenden, analogen Doppellinsenkamera, die über die Perforation hinaus belichtet. Es entstanden Bilder von Situationen, die die Künstlerin selbst nicht gesehen hat. Bei ihr kamen – wie bei Blinden – während der Aktion andere Sinneswahrnehmungen wie hören, riechen und fühlen zum Einsatz. Aufgrund der Dunkelheit, der Unschärfen und der improvisierten Handhabung sind die Bilder fragmentarisch-konfus, wirken improvisiert. Dadurch wird die Stimmung der Künstlerin – zwischen Spannung, Verwirrung und Erwartung – in dieser ungewohnten Situation sehr treffend charakterisiert. Eine Schilderung ihrer Gefühle, Erfahrungen und Gedanken während dieser 24 unsichtbaren Stunden hat sie in Brailleschrift auf einen unbelichteten Film gestanzt, der oben im Leuchtkasten eingefädelt ist. Eine zusätzliche Tafel erläutert die Zeichen und Buchstaben der Brailleschrift für Sehende.

Franz Ramgraber stammt aus Fridolfing in Oberbayern und lebt in Burghausen, wo er lange in der chemischen Industrie tätig war. Er hat einen anderen Ansatz als die beiden KünstlerInnen, zielt aber auch darauf, Dinge jenseits des Sichtbaren darzustellen und die Wahrnehmung dafür anzuregen. Er stellt Arbeiten aus verschiedenen Serien von Cya-notypien (griechisch ‚kyanos‘ = blau), also Blaudrucken, aus – im Fotoforum Braunau in der speziellen Form des kameralosen Fotogramms. Der Blaudruck, ein 1842 von dem englischen Astronomen und Naturwissenschaftler Sir John Herschel erfundenes fotografisches Verfahren, beruht nicht auf Silber, wie bei den Silbergelatineprints, sondern auf der Lichtempfindlichkeit von Eisensalzen. Obwohl jeweils direkter Abdruck eines realen Gegenstands, wird durch das Fotogramm eine verfremdete Abbildung kreiert, unter anderem auch auf Grund des negativen Abbilds. Die Technik der Cyanotypie fügt weitere Verfremdungen hinzu: die Reduktion auf die Farbwerte Blau und Weiß und das Fehlen von Zwischentönen des „Preußisch-Blau“. Wir meinen, bekannte alltägliche Dinge oder Pflanzen zu sehen, wer-den aber verunsichert durch die rätselhaft wirkenden Bilder. Dies führt letztlich zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit dem Bild. Es stellen sich Fragen nach der Erscheinung der Dinge und unserer Wahrnehmung. Das mehr oder weniger abstrakte Bildresultat hat weitgehend inhaltlich autonomen Charakter. Auch die Bildtitel – häufig existentiell-mystische Songtitel von Bob Dylan wie Before the Flood oder As I Walked Out Tonight – leisten keine Interpretation der Bilder, sondern verweisen vielmehr auf Empfindungszustände und philosophische Gedankengänge des Künstlers. Die BetrachterInnen werden zu einem „reinen“, kontemplativen Sehen – Sehen verstanden als Denken – mit der Freiheit zu eigenen inhaltlichen und visuellen Assoziationen angeregt.

 

Bildunterschriften:
01 Carla Degenhardt, aus: blind taste, Videoperformance mit Erich Schmid, 15 Min., 2003, Wien  
02 Katharina Fröschl-Roßboth, aus: Einblicke – Elfie Dallinger und Dietmar Janoschek, Juni 2014, C-Prints, je 80 x 80 cm
03–06 Ausstellungsansichten (Ramgraber / Ramgraber / Degenhardt / Fröschl-Roßboth)