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SISSA MICHELI – METAPHORS FOR SURVIVAL /47° 26' N, 12° 51' O

Kunsthalle Nexus, Saalfelden
Eröffnung: 25.9.2015
Dauer: 26.9. bis 31.10.2015
Rede zur Ausstellung am 25.9.2015,  Petra Noll:

Diese Ausstellung für die Kunsthalle Nexus – die Koordinaten im Titel verweisen auf den Standort Saalfelden – wurde konzipiert von der aus Bruneck in Südtirol stammenden und in Wien lebenden Künstlerin Sissa Micheli, aktuelle Trägerin des Staatsstipendiums für künstlerische Fotografie des Bundeskanzleramts und in diesem Jahr mit einer über mehrere Räume reichenden, ortsspezifischen Installation im Palais Metternich in der italienischen Botschaft in Wien vertreten. Ein Diplomstudium an der Akademie der bildenden Künste Wien, ein immenses künstlerisches Werk, zahlreiche Stipendien – letztes Jahr in London – und Ausstellungen im In-und Ausland prägen ihre künstlerische Laufbahn. Ihre konzeptuell ausgerichtete Kunst basiert auf Aneignungsprozessen. Gelesene oder gehörte Geschichten, Berichte, Archivmaterialien und Bilder aus zahlreichen Bereichen und Quellen sowie Auto-biografisches sind Basis und Inspiration für ihre oft raumgreifenden Installationen, in denen sich zahlreiche Medien inhaltlich und formal verschränken, die Fotografie aber – auch im Wechselspiel mit Film – immer eine wichtige Rolle spielt. Durch den abstrahierenden künstlerischen Prozess entstehen neue, offen konstruierte, vielschichtige Geschichten zwischen Dokumentation und Inszenierung, die das Alltägliche, Bekannte kritisch hinter-fragen und neue Wahrnehmungs- und Bedeutungsebenen eröffnen können. Charakteristikum vieler ihrer Arbeiten, allerdings nicht in dieser Ausstellung ist, dass Micheli häufig zur Protagonistin ihrer oft irritierenden, rätselhaften und teilweise surrealen Bilder und Inszenierungen wird. Es geht ihr um die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Rollenmustern und den daraus resultierenden Verhaltensweisen sowie um Identität und menschliche Grundgefühle. Immer ist auch das Medium „Fotografie“, die Frage nach Sinn und „Wahrheit“ bildlicher Darstellungen sowie die Auseinandersetzung mit Licht, Zeit und Raum Thema ihrer Arbeiten. –

Die multimediale Ausstellung im Nexus ist konzipiert aus Objekten, Videos, Fotografien, Fotogrammen, Zeichnungen und Schriftarbeiten der letzten zwei Jahre sowie Wandmalereien, die sie für die Kunsthalle in einen neuen inhaltlichen und formalen Kontext gestellt hat. Ihre Arbeiten changieren zwischen Realität und Fiktion, zwischen Gegenwart und Zukunft – eine irritierende Kombination, die darauf abzielt, kollektive Emotionen wie Angst, Schutzbedürfnis oder auch die Hoffnung auf Überlebensstrategien anzusprechen. In ihrer Befragung der Existenz agiert die Künstlerin als Forscherin, die nicht nur in der (Natur-)Wissenschaft und (Raumfahrt-)Technik, sondern auch im aktuellen Tagesgeschehen, in der Philosophie, Kunst, Literatur (Micheli hat englische Literatur studiert) und Geschichte Inspiration findet und mit persönlichen Erlebnissen und Beobachtungen verknüpft. In der Ausstellung werden vor allem menschenleere topografische bzw. geologische Situationen wie Höhlen, Berge, Seen, Wälder, Parks usw. als Metaphern des Überlebens (Titel!)bzw. des Scheiterns eingesetzt. Als wichtigstes inszenatorisches Material dient hierzu die aus Aluminium und Polyester bestehende, in der Raumfahrt entwickelte und nun für die Bergung Verunglückter, aber u.a. auch im Freizeitbereich (Modellbau, Camping) und in der Fotografie verwendete Rettungsdecke. Mit deren silberner Innenseite baut d.h. simuliert Micheli Naturelemente – wie die Bergmassive in der dreiteiligen Videoinstallation „A Mountain Phenomenon“ in einem „black cube“ in der oberen Galerie. Diese (Silber-)Berge wurden entgegen ihrer Natur in Rotation versetzt und gefilmt; projiziert werden sie auf drei schwebende, versetzt installierte runde Reflektoren, wie man sie in Fotografie und Film verwendet. Durch deren Semitransparenz sind die Motive von zwei Seiten ansichtig. Der tiefschwarze Raum und die darin schwebenden runden, an Planeten erinnernden Projektionsscheiben bewirken ein kosmisches Raumerlebnis, das existentielle Gefühle auszulösen vermag und gleichzeitig etwas von der Faszination, dem Staunen und der Neugierde der Künstlerin über die aufregende Welt des Alls, vermitteln. In der künstlerischen Arbeit werden reale physikalische Gesetzmäßigkeiten durch die Materialität und die Rotation der Berge mit Augenzwinkern auf den Kopf gestellt und somit ein Blick auf neue Wahrnehmungsmöglichkeiten gelenkt.

Zu der Installation liest Micheli einen eigenen Text in Englisch (dieser steht auf der Bilderliste im Saal). Hier geht es um das Verhältnis von Licht und Zeit und die damit verbundenen Gefühle der Künstlerin. Im Zuge des permanenten Rotierens der aus Rettungsdecken bestehenden Silberberge, die das Licht reflektieren und brechen, wird der Verlauf von Zeit durch die Veränderung des Lichts sichtbar gemacht. Licht wird als etwas Kontinuierliches empfunden und gleichsam als Unterbrechung von Zeit. Micheli schildert im Text ein von ihr – trotz der gleichmäßigen Rotation des Berges – gefühltes unstabiles, existentielles Gefühl. Zu den Videos passt die zweiteilige Schriftarbeit „Twilight“, bestehend aus einer Passage aus Virginia Woolf’s „A Room of Own’s Own“, in der anhand einer metaphernreichen Beschrei-bung einer Naturstimmung eine Befindlichkeit über Raum und Zeit ausgedrückt wird. Die Bilder sehen aus wie Fenster, in denen sich die Schrift reflektiert, womit eine im Text erwähnte Metapher ("burn in window panes"=Fensterglas) aufgegriffen wird.

Eine Fortsetzung der Projektion der Rettungsdecken-Berge ist die Serie „Utopia in Transit – On Clouds and Meteorites“. Hier hat Micheli während eines Stipendiums 2014 in einem Park in London hochgeworfene Rettungsdecken fotografiert, die im Bild als uneindeutige, schwebende Objekte erscheinen. Sie bewegen sich zwischen Erde und All, zwischen Gegenwart und Zukunft. Ufos? Meteoriten? Wolken? Ein Blick in die Zukunft, ins Ungewisse, das bedrohlich ist. Wie geht es weiter in einer Zeit, in der die Menschen ihre Heimat, ihr Haus für ein Leben in einer ungewissen Fremde verlassen müssen? – Formal ist die Arbeit eine Auseinandersetzung mit Skulptur, von der nur ein von Micheli ausgesuchter Moment der Form im Foto geziegt werden kann. Nach der Fertigstellung der Fotos hat Micheli eine Bildverschiebung jedes Fotos vorgenommen; dadurch entstand jeweils ein mehrdimen-sionaler Umriss, der formal Fotografie als Konstrukt entlarvt und inhaltlich neue, unbekannte Vorstellungsmöglichkeiten eröffnet: Der Umriss verweist auf das Amplituhedron, ein mehr-dimensionales geometrisches Objekt in der Quantenphysik, das unkonventionell – d.h. die physikalischen Regeln verlassend – zur Berechnung der Wechselwirkung zwischen Ele-mentarteilen angewandt wird und damit neue Dimensionen eröffnet.

Der zeltartige Berg, der in mehreren Arbeiten auftaucht, sowie die Höhlen der beiden Serien „Icicle Caves in Mountain Landscapes“ – Zeichnungen von Eishöhlen, die von realen Rettungsdecken umgeben sind – stehen als Metaphern für das Haus, ein Motiv, das häufig in Michelis Arbeiten auftaucht. So sehen auch die Arbeiten der Serie „Panorama Reversed“ (umgekehrt) wie Behausungen aus. Es sind aus Papier gefaltete Tetraeder – also aus vier dreieckigen Flächen bestehende Körper – von der Künstlerin selbst bestiegenen Gebirgen (Dolomiten). Das Haus versteht sich einerseits als Rückzugs-, Schutz- und Geborgenheits-Ort, aber andererseits steht es auch für Abschottung und Ausgrenzung gegenüber dem Außen, dem häufig als bedrohlich empfundenen Fremden. Dieses Gefühl der Bedrohung resultiert meist aus dem Unbekannten, Unerklärbaren. Micheli ist, wie bereits erwähnt, interessiert an der Untersuchung der Grundemotionen und der daraus entstehen-den Verhaltensweisen von Menschen. In der Fotoarbeit „Scenario for a Possible Mystery“ suggerieren Motiv und Titel, dass etwas Unerklärliches, vielleicht Bedrohliches passieren könnte oder bereits passiert ist. Gleichzeitig liegt aber in diesem Mysteriösen, Unergründlichen, das Micheli grundsätzlich interessiert, ein Weg zu neuen Erfahrungswerten, Perspektiven und Lebensmodellen. –Überleben/Rettung oder Absturz – die Fallschirme der Serie „Reversed Parachutes“ stehen als Metaphern für beide Möglichkeiten, ebenso wie die Spiegel mit den Umrissen realer Bergseen („Reversed Lakes“), die verführerisch glitzernd und reflektierend gleichzeitig ein Loch, Leere, Versinken suggerieren.

Für Galileo Galilei war es die Sprache der Mathematik und ihrer „Buchstaben“ – der geometrischen Formen – durch die das Universum erklärbar wird. So wird auch verständlich, warum Micheli in ihrer Ausstellung – sowohl in der Form einzelner Arbeiten als auch in der Hängung sowie in der Wandmalerei so stringend das Dreieck, den Kreis, den Tetraeder als Formgeber einsetzt.

 

Biografie Sissa Micheli. www.sissamicheli.net / *1975 in Bruneck/ Südtirol (IT), lebt und arbeitet in Wien (AT). 2000–02 Schule für künstlerische Photographie, Wien. 2002–07 Akademie der bildenden Künste Wien.  2007–2011 Dozentin an der Internationalen Sommerakademie für Bildende Kunst und Medientechnologie Venedig. Stipendien (Auswahl): 2015 Staatsstipendium für künstlerische Fotografie. 2014 Atelierstipendium des bka in London. 2009 Atelierstipendium des bm:ukk in Paris. 2006 Stipendium der Landesregierung Südtirol in New York. Zahlreiche Preise und Ankäufe.
Einzelausstellungen (Auswahl): 2015 Palais Metternich – Italienische Botschaft, Marcello Farabegoli Projects, Wien. 2014 Austrian Cultural Forum, London. Medienfassade Museion, Bozen (IT). Künstlerhaus KM–, Halle für Kunst & Medien, Graz (AT). Bäckerstraße 4 – Plattform für junge Kunst, Wien. 2013 EIKON Schaufenster, MuseumsQuartier, Wien. Galerie Goethe 2, Bozen (IT). Kunst Meran, Meran (IT). 2011 Künstlerhaus, Wien. 2009 Fotoforum West, Innsbruck (AT). 2008 MUSA-Startgalerie / eyes on – Monat der Fotografie, Wien. 2005  Foto-forum, Bozen (IT). Zahlreiche Gruppenausstellungen im In- und Ausland.  
 
 
01  A Mountain Phenomenon, 2014, Still, Videoinstallation, HD Videos auf 3 Reflektoren, 16:9, sw, Ton, Englisch, 9'53''
02  Aus der Serie: Icicle Caves in Mountain Landscapes, 2014, Rettungsdecke, Bleistiftzeichnung auf Papier, 100 x 70 cm
03  Aus der Serie: Utopia in Transit / On Clouds and Meteorites, 2015, C-print Diasec, variable Größe
04  Aus der Serie: Reversed Parachutes, 2015, Fotogramm auf Barytpapier, 30 x 40 cm
05  Aus der Serie: Icicle Caves in Mountain Landscapes, 2014, Rettungsdecke, Bleistiftzeichnung auf Papier, 26 x 32 cm
06–10 Ausstellungsansichten, Fotos: Sissa Micheli