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Manfred Erjautz – Space of Moments

Kunsthalle Nexus, Saalfelden
Eröffnung: 16. November 2019
Dauer: 17.11.2018–19.1.2019
 

Saaltext (Auszug Rede zur Eröffnung), Petra Noll-H.:

Der Raum ist in Bezug auf die Anordnung der Werke, Blickachsen, und Licht präzise erarbeitet. Die ausgestellten Arbeiten stammen aus verschiedenen Werkgruppen und beziehen sich auf die Themen Polarität, Raum und Wahrnehmung. Ausgangs-punkt ist der Mensch bzw. der menschliche Körper und seine Veränderungen im Laufe des Lebens; der verletzliche Mensch, der sich – verstrickt in die Mechanismen der Gesellschaft und hin- und hergeworfen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit befindet – auf der Suche nach seiner Identität und Positionierung in einer zunehmend schwierigen Außenwelt. Erjautz bringt durch seine teils humorvollen, teils skurrilen Verschiebungen, Zweckentfremdungen und Negierungen physikalischer Gesetze bekannte Relationen und Konstellationen ins Wanken und Dinge aus dem Gleichgewicht, um scheinbar unverrückbare Tatsachen neu zu reflektieren, wie etwa bei den beiden durch Herabfallen verformten Tonglocken oder bei der Fallblatt-Uhr mit dem Titel Gegen den Tag, die keine Ziffern hat und somit keine zeitliche Orientierung liefert, oder auch bei den beiden durch Erhitzung verformten Bauhelmen, von denen sich einer in eine vertikale zeichnerische Line of Thought verdünnt. Skurril ist auch die Zweckentfremdung eines Kühlschranks in eine Vitrine.

Ein wichtiger Teil der Ausstellung (Galerie) sind die in Auszügen präsentierten Skizzenbücher mit Entwurfskizzen und Notizen des Künstlers, die er seit fast 30 Jahren anlegt, da er die meisten Arbeiten aus dem zeichnerischen Prozess heraus entwickelt.

POLARITÄT ist ein großes Thema in der Ausstellung, Polarität – eine grundlegende Kategorie des Lebens. Pole sind koexistierende Gegensatzpaare, die ohne einander nicht erfahrbar sind, sich gegenseitig bedingen und ergänzen. In der Ausstellung sind die Objekte im Wechsel von oben und unten installiert. Wie zeichnerische Linien fallen Kabel und Fäden herab, steigen Ketten in die Höhe.

Figuren aus der Serie „Shelter“: Die beiden lebensgroßen Figuren stammen aus der Serie Shelter. Eine zwitterhafte Figur, überzogen mit schwarzem Pelz und Ziegenfell, hängt von der Decke. Eine weiße unbekleidete weibliche Figur (sie trägt den Titel der Ausstellung) schwebt in einer fragilen Haltung unten auf einem Sockel. Beide wurden aus Schaufensterpuppen konstruiert, eine Materialität, die Erjautz schon lange verwendet. Die Skulpturen fungieren als Modellfiguren des menschlichen Körpers. Sie haben durch den Pelzüberzug bei der schwarzen bzw. durch die den Kopf der weißen Figur umkreisenden Gegenstände eine neue Identität bekommen, sind ebenso lebensnah wie fremd-fantastisch. Der Frauenkörper, der uns in den Schaufenstern als Ideal präsentiert wird, ist schön/sinnlich und irreal zugleich. Ausgewählte Gegenstände umkreisen symbolhaft den Kopf der Figur und machen, analog zum Titel der Skulptur und der Ausstellung, aufmerksam auf verschiedene Seinsräume, in denen der Mensch sich bewegt, von diesen manipuliert wird, aber auch selbst bestimmt (u.a. Raum der Arbeit/Büro, Raum der Freizeit/Eiffelturm, körperlicher Raum/ Schmerztabletten, begrenzter Raum/Aluprofil vor den Augen, Raum der Sicherheit/Kette).

Männlich/weiblich, Schwarz/Weiß, Höhe/Tiefe, Nähe/ Distanz, Schutz/ Ausgeliefertsein – die Pole ziehen sich an und stoßen sich ab. Erjautz hat einen Raum geschaffen, der einerseits definiert ist und andererseits zuordenbare Räumlich- und Dinglichkeit verweigert, ein System aus Schein und Sein, ein paradoxes Spiegelbild der Realität, das uns auf die Flüchtigkeit unserer Empfindungen und Vereinbarungen hinweist.

Von der Decke hängt die Neon-Lichtskulptur ME/WE ab, die den Schriftzug ME in grell-blauem Licht erscheinen lässt. Sie schwebt horizontal. Mit einem Scheinwerfer wird ME auf den Boden projiziert – ein WE erscheint als Schattenbild. ME, in der Körpergröße von Erjautz, versteht sich einerseits als logohaft verwendete Initiale des Künstlers. Es taucht hier in verschiedenen Arbeiten auf, u.a. in dem Aquarell ME von 1988. ME steht aber auch (engl.) für das Ich, das Individuum im Gegensatz zur Gruppe. Die Transformation verweist auf die polare Spannung zwischen beiden: kein ME ohne WE, kein Licht ohne Schatten. Das ME wirkt stark durch seine Position – in der Höhe gleichsam schwer und leicht schwebend, seinen Status als Konstrukteur des WE und das dominante Licht; das WE schwach, da es nur ein Schattenbild ist. Die BesucherInnen stehen im Spannungsfeld der beiden Pole. Das als Logo eingesetzte ME verweist auch auf die bereits seit Ende der 1990er-Jahre von Erjautz verwendeten Logos. In seiner kritischen Auseinandersetzung mit der Konsumindustrie hat er signalhafte Aufnäher und Sticker dicht auf Schaufensterpuppen geklebt, sie damit normiert und jegliche Individualität genommen.

Hier finden sie sich wieder auf den Arbeiten Horizon A–D (2003) in Form von Klebestreifen verschiedener, teilweise manipulierter Logos und Aufkleber auf gebogenen Rein-Aluminiumplatten, deren Materialität ein Wiederabziehen, also ein Austauschen und Aktualisie-ren ermöglichen – sie senden Botschaften und verschwinden wieder – eine Reflexion über die schnelllebige Werbewelt und Ästhetik.

Mini-ME ist ein kleiner Schneemann (2013), ein Symbol der Kindheit, der Erinnerung wie auch der Zeit. Er besteht aus den dauerhaften Materialien Laaser Marmor und Granit und schmilzt nie, im Gegensatz zu seinem realen Pendant aus dem flüchtigen, weichen Material Schnee. So ist er angesiedelt zwischen den Polen Festigkeit/Auflösung, Zeitlosigkeit/ Begrenztheit. Ein Anachronismus, wenn dieser steinerne Schneemann in einem Kühlschrank präsentiert wird!

Ein vertikaler Gegenpol zu der Leuchtskulptur und den Bildern sind der inkarnatfarbene große und der kleine schwarze Anker In der Tiefe des Plafons. Sie sind entgegen jeder Zweckmäßigkeit und Logik mit ihrem schweren Teil, der Flunke, an der Decke bzw. an der Wand befestigt; nur ein dünner Faden, eine „Ankerkette“, die nichts leistet, hängt herunter. Neben polaren Faktoren wie schwer/leicht wird hier auch psychische Polarität wie Hoffnung (Anker) und ihr Gegenteil angesprochen. Kettenskulpturen (Das haltlose Ende) führen scheinbar das Gesetz der Schwerkraft ad absurdum, streben sie doch als vertikale zeichnerische Linien in ganz unglaublicher Weise nach oben, während das unten aufgerollte Kettenende wie heruntergefallen (Titel Fallstudie wie die Glocken) erscheint und seine stabilisierende Funktion nicht offensichtlich preisgibt. Zeichnerisch geben sich auch die zehn Rohleinenbilder (Signed Field): Leichte Fäden wie beim Anker kreieren minimalistische Zeichnungen. Drei Arbeiten zeigen einen Haufen Fäden scheinbar ungeordnet verteilt. Tatsächlich wurden sie zwar hingeworfen, aber dann in einem aufwändigen Nähprozess fixiert.

Eine zentrale Arbeit ist auch die Glasskulptur Sunken Earth aus der Werkgruppe Wie die Dinge zusammenhängen, ein leuchtender Globus, der durch seine Fragilität und die bewusst zugelassene Verformung alles andere als Dingzusammenhänge klärt, sondern vielmehr geografische bzw. kartografische Konstanten und die perfekte Schöpfungsidee stört. In dieser Welt zwischen Nord- und Südpol, zwischen Zeit-/Ortlosigkeit und Begrenzung, Bewegung und Stillstand, Statik und Transformation, zwischen Erfolg und Scheitern, Glück und Unglück bewegen wir uns Menschen – schwankend auf der taumelnden Erde – innerhalb der naturgegebenen und der von uns gemachten Gesetze und deren Auswirkungen.

 
 
 

Bildunterschriften

Linke Spalte:

01–03: Ausstellungsansichten Kunsthalle Nexus 2018; zentral:ME/WE, 2003, Neon, Acrylglas, Aluminium, Drahtseile, Scheinwerfer; 172 x 93 x 12,5 cm, Courtesy Sammlung Denise & Günther Leising, Graz

04: Ausstellungsansicht Kunsthalle Nexus; Shelter (Awakening), 2014, Schaufenstermannequin, Persianer, Glas, Metall, Bücher, h 174 cm

05: Ausstellungsansicht Kunsthalle Nexus; Skizzenbücher und Mini ME, handgefertigter, polierter Laaser-Marmor, gefärbter Granit, Edelstahl, 2013, ca. 24 x 10 x 8 cm

Rechte Spalte:

06: Ausstellungsansicht Kunsthalle Nexus; Sunken earth, mundgeblasene Glaskugel, Überfangtechnik, deformiert, Metall, Glühbirne, Elektrik, Sockel, Durchmesser 45 cm, 2012, Unikat

07: Ausstellungsansicht Kunsthalle Nexus, Das haltlose Ende (Fallstudie 1), 2014, Ketten verschweißt, 305 x 76 x 59 cm und Das haltlose Ende (Fallstudie 2), 2014, Ketten verschweißt, 275 x 75 x 48

08: Ausstellungsansicht Kunsthalle Nexus, Shelter (Space of Moments), 2017, Schaufensterpuppe, Aluminium, Zinkdruckguss, Weißblech, Türkette, Stecknadel, Schmerzmittel, 135 × 120 × 58 cm, Unikat     

09: Against the Day/Gegen den Tag, 1970/2014, Fallblatt-Uhr vom Warschauer Bahnhof, Solari Cifra 120 poliert, ca. 40 x 60 cm

10: Ausstellungsansicht Kunsthalle Nexus; Smiling clunk (Fallstudie 3), 2014, in Ton abgeformte Glocke, Bronzeglasur Unikat, 16 x 16 x 6 cm und (re.) Smiling splat (Fallstudie 3), 2014, in Ton abgeformte Glocke, (handgemalte) Fassung Inkarnat, Unikat,16 x 16 x 6 cm

11: Notizbuch Manfred Erjautz, Foto: Matthias Reichelt

12: In der Tiefe des Plafonds, 2014, Anker geschmiedet, Fassungg Inkarnat, Faden, 70 x 58 x 8 cm