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SONJA GANGL – FROM HERE TO ETERNITY

Kunsthalle im Kunsthaus Nexus
 
Eröffnung: 22. September 2017
Dauer: 23.9. bis 4.11.2017
 
Rede zur Eröffnung am 22.9.2017, Petra Noll-H.

Sonja Gangl, gebürtige Grazerin und in Wien lebend, zeigt Grafit- und Buntstiftzeichnungen auf Papier aus drei Werkblöcken sowie Leuchtkästen aus der Serie »Letterboxing«. Die Künstlerin studierte 1984 bis 1989 an der Akademie der bildenden Künste Wien in der Meisterklasse von Markus Prachensky und von 1989 bis 1992 an der Universität für angewandte Kunst Wien in der Meisterklasse von Ernst Caramelle. Sie war 2009 die erste weibliche Preisträgerin des Kunstpreises der Stadt Graz und 2013/14 die erste Gegenwartskünstlerin mit einer Soloschau in der Albertina Wien, wo sie auch Arbeiten präsentierte, die zum Teil hier ausgestellt sind. Wie u.a. die Gruppenausstellung „Drawing Now“ vor zwei Jahren in der Albertina zeigte, an der Gangl beteiligt war, experimentieren Künstlerinnen und Künstler heute mit der Linie, indem sie sie technisch, räumlich, inhaltlich und philosophisch in alle Richtungen erweitern. Gangl hat die ureigenste Technik der Zeichnung, Blei- und Buntstift auf Papier, gewählt und dabei gleichzeitig andere Konventionen gebrochen. Ihre in langen Prozessen entstehenden Zeichnungen basieren auf konzeptuellen Überlegungen; ihnen fehlt das, was man früher üblicherweise mit einer Zeichnung verband, nämlich Expressivität, Spontanität, Skizzenhaftigkeit. Ihre Zeichungen sind virtuos ausgeführt, detailliertpräzise und handwerklich-intensiv über zum Teil sehr lange Zeiträume hergestellt. Typisch ist die Setzung von schraffierten Linien, die von oben nach unten abgearbeitet werden und in der Stärke variieren. Eine Linie wird dabei an die andere gesetzt. Trotz der meisterlichen, fast fotorealistischen Technik wird schnell klar, dass es ihr um vieles mehr geht als um Zeichentechnik. So arbeitet sie auch in anderen Medien und verwendet fotografische und filmische Vorlagen, die sie in das Medium Zeichnung transferiert sowie vice versa die Zeichnung auch wieder in ein Video (ohne Beispiel in der Ausstellung). Neben diesem Transfer von Bildvorlagen aus technischen Medien sind es die Ausschnitthaftigkeit, die Reduktion auf das Wesentliche, die Detailvergrößerungen, der häufige Verzicht auf die realitätsgetreuere Farbe sowie die geringere Erkennbarkeit der Motive aus der Nähe, durch die ihre Bilder zwischen Realität und Illusion stehen. Gangl wählt mit Vorliebe diesen Aneignungsprozess alter Bilder, da diese immer Erinnerungen beinhalten, die durch Stimulation plötzlich freigesetzt werden können. Wie bestimmen diese Erinnerungen unser Denken und Handeln? Das ist nur eine Frage von Gangl.

Zwei große Serien, von denen hier eine Auswahl getroffen wurde, sind Captured on Paper_The End  und Eyes, beide entstanden aus Transfers von Filmbildern in Zeichnungen. In der 1991 begonnenen Zeichnungsserie The End dienen Filmstills von an den Schluss von Kino-Spielfilmen gesetzten Schriftbildern (Ende) als Vorlage. Von den „Ende-Bildern“ gibt es hier drei größere in SW und drei kleinere Formate in Farbe. Gangl hat seit 1991 ein Archiv angelegt mit Schlussszenen, wobei sie anfangs nur interessiert war an den Schriftzügen. Dann hat sie sich mit dem Spannungsverhältnis von Schrift und Bild auseinandergesetzt und mit der Frage, warum welches Bild als letztes ausgewählt wurde. Die Bilder der Ende-Serie stammen von Filmen wie z.B. von Godard, Fellini, Kubrick, Zinnemann (From Here to Eternity / Verdammt in alle Ewigkeit). Aber die Filme sind in den Bildunterschriften nicht angegeben; diese bestehen nur Einsern und Nullern, d.h., sie sind aus dem binären Nummerierungssystem der Informatik. Zudem geben die Titel (der farbigen Arbeiten) das beim Transfer auf DVD verwendeten Größenverhältnis 16:9 an, das Gangl als Grundlage ihres Zeichenformats nimmt. Diese nüchterne Titelei bringt eine Art wissenschaftliche Distanzierung mit sich. Wir können nur an unser Gedächtnis appellieren; einmal erkennen wir vielleicht Mario Adorf, aber in welchem Film hat er da gespielt? Nur „Deep throat“, ein merkwürdiger Sexfilm von Jerry Gerard von 1972 kann man aus dem Ende-Bild herauslesen. Die inhaltlich wenig informativen letzten Ende-Bilder in Kinofilmen gibt es nicht mehr, seitdem die urheberlichen Gesetze strenger und damit die Aufzählung der am Film Beteiligten umfangreicher und deshalb auch vom Anfang an das Ende gesetzt wurde. Damals war ein Ende-Bild ein plötzlich den Fluss der Filmbilder anhaltendes letztes Schriftbild. Das Interessante an diesem Bild ist seine Übergangsposition zwischen illusionistischer Filmerzählung und realem Leben im Kinosaal. Im Wort Ende liegt schon Traurigkeit und Abschied. Es weckt Erinnerungen an viele Kinobesuche, in denen man eigentlich den Film nicht verlassen wollte, aber durch das Ende-Bild abrupt in die Realität geworfen wurde. Viele Arbeiten von Gangl beschäftigen sich nicht nur mit Gedächtnis und Erinnerung, sondern auch mit unseren Sehnsüchten und Begehren und wie diese von außen gesteuert werden. Mit Reduktion auf ein Foto jeden Films zeigt Gangl auch, dass es ihr nicht um das spektakuläre, erzählerische Filmbild geht, sondern um Fragen nach dem Bild an sich sowie um Ästhetik und Zeit. Die realistische Wiedergabe ist auch gebrochen durch die meist in dieser Serie gewählte Reduktion auf Schwarz-Weiß, durch die fehlende, aber dadurch Erinnerung oder Assoziation hervorrufende Nennung der Filme im Titel sowie durch die Verwendung von unschärferem digitalem Filmmaterial als Vorlage mit Pixeln, die erkennbar sind in den Zeichnungen.

In den hier ausgewählten SW-Zeichnungen der Serie Eyes verwendet Gangl Stills aus – in diesem bezeichneten – Filmen mit eindrücklichen Augen-Szenen. Das „Auge“, das für Orientierung, Erkennen, Unterscheidung von Farben, Formen steht sowie Distanzen überwinden kann, ist zugleich unser vielleicht wichtigstes, wie auch schutzbedürftigstes Sinnesorgan. Und es ist vergleichbar mit einem Fotoapparat. Gangls Arbeiten beinhalten alle diese sehtechnischen und kommunikativen Verweise, setzen sich mit Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit auseinander, sprechen Emotionen an, die Blicke auslösen können und verweigern gleichzeitig das dramatischste Bild des jeweiligen Films. So nimmt Gangl beispielweise aus dem surrealistischen Kurzfilm „Der andalusische Hund“ von Luis Buñuel und Salvadore Dali von 1929 nicht die bekannteste, meist zitierte Szene mit dem direkten Schnitt ins Auge, sondern sie hat zwei Bilder – davor und danach ausgewählt –, die sie in Zeichnungen umgesetzt hat: Im ersten zeigt sie die Hände (Buñuel), die das Auge einer Frau, der man keine Emotion anmerkt, auseinanderspreizen. Im zweiten Bild wird die Klinge angesetzt. Völlig aus dem Kontext genommen, provozieren die Bilder Assoziationen, wecken Neugier und setzen Erinnerungsvorgänge in Bewegung. Repulsion (Ekel), das Bild unten an der Stiege, ist ein Thriller von Roman Polanski von 1965, in dem eine schöne, männerfeindliche, psychotische Frau, gespielt von Catherine Deneuve, zwei Männer ermordet. Wir sehen in Gangls Zeichnung im Close-Up das rechte Auge der Frau, in dem sich auch der Raum spiegelt. Gangl hat bewusst dieses Bild gewählt, da es ein Indikator für die Wahnvorstellungen der Frau ist und deshalb auch im Film an Anfang und Ende gestellt wurde. Dennoch bleibt es bei Gangl durch den fehlenden Zusammenhang offen für eigene Interpretationen und Gefühle. Es gibt eine weitere Zeichnung von zwei Augen, die aus deinem Verband schauen, sie stammen aus dem Thriller-Horror-SW-Film von Georges Franju von 1960 mit dem Titel Les yeux sans visage (Die Augen ohne Gesicht), in dem ein Chirurg bei mehreren jungen Frauen – letztlich vergeblich – die Gesichtshaut abzulösen versucht, um sie seiner von einem, von ihm verursachten Autounfall entstellten Tocher eine neue zu geben. Gangl hat für ihr Augen-Bild nun nicht die verzweifelten Augen der Tochter hinter der japanischen Kabuki-Maske gewählt, sondern ein Opfer im Verband, deren Augen eher melancholisch in die Ferne gerichtet als angstvoll wirken. Alle diese Augen lösen, so auch das Bild aus dem Film „Young Frankenstein“ – einer Komödie von Mel Brooks und Satire auf Horrorfilme der 1930er-Jahre –, unterschiedliche Gefühle von Mitleid, Ekel oder Entsetzen aus.

Die Serie Untitled besteht aus Schwarzweiß-Zeichnungen nach Fotos von Warenverpackungen aus Papier, Karton und Kunststoff sowie von in Falten geworfenen Textilien. Mit den Motiven möchte Gangl weniger unser Konsum- und Wegwerf-Verhalten oder andere Dinge kritisieren. Die Banalität der ausgewählten Gegenstände lässt darauf schließen, dass es Gangl um etwas anderes geht als ein schönes Bild. Sie ist interessiert an der strukturellen Vielfalt der Dinge. Die Materialitäten der verschiedenen Gegenstände wurden in perfekter Weise und gemäß ihrer Eigenart herausgearbeitet. Die durch Freistellung auf Weiß verfremdeten Motive lassen diese in ganz neuem Licht erscheinen.

In der Leuchtkasten-Serie Letterboxing (Briefkasten) in der Galerie geht es auch wieder um Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, um Sehen oder Nichtsehen, um Zensur und um Voyeurismus. Schmale vertikale Sehschlitze zwischen schwarz gezeichneten Balken enthalten mit lichtechtem roten Buntstift gemalte und mit rotem Licht erleuchtete Zeichnungen oder ein Magazinfoto oder nur Licht. Eine andere Arbeit enthält Bilder, die in horizontalen schmalen Streifen eingepasst sind. Auch aus nächster Nähe sind die pornografischen Inhalte nur wenig erkennbar. Schaltet man das Licht ab, erahnt man eine Zeichnung, aber es ist zu dunkel, um viel zu erkennen. Es geht Gangl auch gar nicht um die Inhalte oder eine kritisch-moralische Auseinandersetzung. Wie beim umgekehrten Prinzip des Durchstreichens mit dem Zensurbalken weckt dies den Wunsch nach mehr Sichtbarkeit, regt die Fantasie an und wirft die Frage auf, inwieweit sich Bildmaterial reduzieren lässt – manchmal wurde sogar ganz auf das Bild verzichtet, bis man gar nichts mehr erkennt.

Biografie und weiterführende Informationen: www.sonjagangl.com

 
Bildunterschriften:

01: CAPTURED ON PAPER_eyes (Repulsion), 2014,
 Bleistift auf Papier, 50 x 92,5 cm. – 02: CAPTURED ON PAPER_eyes (Young Frankenstein), 2013, Bleistift auf Papier, 50 x 92,5 cm, Repro: David Auner. – 03: Ausstellungsansicht: Thomas Gorisek, li: Untitled # 49, 2016, Bleistift auf Papier, 84 x 131 cm.– 04: Untitled # 23, 2016, Bleistift auf Papier, Durchmesser 17,5 cm, Repro: Thomas Gorisek. – 05: CAPTURED ON PAPER_The end, 1001011_16:9, 2011, Buntstift auf Büttenpapier, 30 x 40 cm, Repro: Michael Schuster. – 06–10: Ausstellungsansichten: Thomas Gorisek