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TIMM ULRICHS – TRIAL & ERROR

Kunsthalle Nexus, Saalfelden
 
Dauer: 26.11.2016 bis 21.1.2017

Vernissagenrede am 25.11.2016, Petra Noll:

Mit Timm Ulrichs stellt einer der bekanntesten deutschen Konzeptkünstler in der Kunsthalle Nexus aus. Der in Berlin geborene Künstler lebt und arbeitet in Hannover, Berlin und Münster. Es ist hier seine erste große Überblicksschau in Österreich; sie zeigt wichtige Arbeiten aus allen Tätigkeitsbe-reichen, Zeiten und Themen des überaus vielseitigen, seit über 50 Jahren tätigen Künstlers. Die Arbeiten stammen zum Teil aus der Sammlung des Kunstmuseums Ahlen in Westfalen/ Deutschland und aus seinem Bestand. Ulrichs bezeichnet sich als „Totalkünstler“, da er sich weder technisch, noch inhaltlich Grenzen setzen möchte. Als Künstler Autodidakt, nennt Ulrichs sich zudem ironisch „Universaldilettant“, weil er keinem bestimmten Berufsbild entsprechen, sondern offen für Neues bleiben möchte. 1961 gründete er die sogenannte „Werbezentrale für Totalkunst & Banalismus mit „Zimmer-Galerie und Zimmer-Theater“, acht Jahre später die „Kunstpraxis“ mit dem Angebot „Sprechstunden nach Vereinbarung“. Seine Arbeiten verstehen sich häufig von selbst (von unzähligen Beispielen sei das hier ausgestellte Objekt „Der erste sitzende Stuhl – nach langem Stehen sich zur Ruhe setzend“ von 1970 genannt, oder auch „Öl-Film“ (1969/2014), ein Video, das einen Ölfilm auf einer Wasseroberfläche zeigt; es wird in einer Reihe von 11 weiteren Kurzfilmen aus unterschiedlichen Jahren in der Galerie gezeigt. Der Titel der Ausstellung, „Trial & Error (Versuch und Irrtum) beschreibt eine Methode der Problemlösung, in der durch immer wieder neue Versuche inklusive der damit verbundenen Irrwege auf Lösungen hingearbeitet wird – im Gegensatz zum analytischen Vorgehen, das Fehler von vorne-herein ausschließen möchte. Auch Timm Ulrichs geht so vor. Er stößt – auch manchmal zufällig – auf ein Thema, das er intensiv von allen Seiten bearbeitet, indem er immer neue Zugänge sucht und wechselnde Methoden anwendet.

Die Ausstellung ist in verschiedene Themenbereiche gegliedert, die sich auch überlappen. Vor allem in der Galerie finden wir Arbeiten, in denen sich Timm Ulrichs mit dem eigenen Ego beschäftigt. Augenzwinkernd setzt er sich als „Maß aller Dinge“ ein, um damit menschliche Maßstäbe in Frage zu stellen. Er versteht sich als Zeitgenosse in einer vielfältigen Welt, der zwar keine Antworten geben kann, aber doch Erkenntnisse und Geistesblitze zum Weiterdenken abzuliefern vermag. Aus diesem Zugang ergibt sich, dass er viele „Selbstporträts“ gemacht hat, aber anders als im üblichen Sinne, wo es meist um die möglichst präzise und positive Wiedergabe des Porträtierten geht. Nachdem er sich 1961 als Erstes lebendes Kunstwerk erklärt hatte und damit groteskerweise 1965 in einer eigentlich juryfreien Ausstellung abgelehnt worden war, stellte er sich 1966, in einem Glaskasten sitzend, in einer Galerie in Frankfurt aus und provozierte damit die gängigen Vorstellungen von einem Kunstwerk. Danach folgten zahlreiche „Selbstporträts“ wie z.B. Wurzel-Werk (1980/89/ 2010), zu sehen als dreiteilige Fotoarbeit in der Galerie. Hier hat er aus Abgüssen seines Kopfes, aus dem er in massenhafter Vervielfältigung ein Kopfsteinpflaster in Hannover (1978/80/94) gestaltet hatte – auch ein Beispiel für seinen wörtlichen Humor – eine Negativform gegossen. Diese hat er wie einen Blumentopf mit Erde befüllt und einen Buchsbaum eingepflanzt. Dessen Wurzeln zeichnen die Kopfform nach und lassen an Nervenbahnen oder Adern denken – eine selbstironische Verfremdung des üblichen Selbstporträts. Oder er hat analog zum Pariser Urmeter, in dem unser Meter festgelegt ist, einen eigenen Meterstab aus Edelstahl in seiner eigenen Körpergröße angefertigt. Wenn er sich selbstironisch als Maß aller Dinge einsetzt, ist es nur konsequent, dass er körpereigene Materialien verwendet bzw. „Körper-Kunst-Objekte“ herstellt – wie den in der Ausstellung gezeigten Künstlerhaarpinsel (1971/73), der aus seinen eigenen Künstlerhaaren besteht. Seinen Körper hat er des öfteren tätowieren lassen (wie z.B. „The End“ auf sein rechtes Augenlid) oder er hat die Stellen seines Körpers, die er nicht direkt sehen kann, weiß bemalt. Das Foto „Haut-Film“ belegt eine Aktion, bei der er sich das Wort „Haut-Film auf den Körper geklebt hat und den Rest hat bräunen lassen. Für das Objekt Ich im Rahmen (1993/96/98) wurde mit seinem Profil-Selbstporträt das Profil eines Bilderrahmens gestaltet. Häufig stellt er auch seine medizinischen bzw. identitätsnachweisenden Dokumente aus, um damit unsere Dokumenten-Abhängigkeit kritisch zu hinterfragen. So ist sein „Autobiografisches Tagebuch“ (1972) ein 2880 Seiten langes Endlospapier, auf dem bei ihm gemessene medizinische Daten wie Herzfrequenz, Atemgeräusche, Hirnströme, Thorax-Bewegung usw. eines Tages – 30 Sekunden pro Blatt – festgehalten sind – ein Tagebuch, das sich sozusagen „von selbst“ schreibt – der Mensch reduziert auf rein medizinische Daten.

Ulrichs Arbeiten zum Thema Kunst hängen in erster Linie an der großen Wand gegenüber der Galerie. Er hat ein kritisches Verhältnis zur etablierten Kunst. Viele seiner Arbeiten sind Multiples, Auflagenobjekte, da es ihm wichtig ist, Kunst unter die Leute. Bekannt ist z.B. sein Glückswürfel, der auf allen Seiten die Zahl 6 trägt und das Glück nicht dem Zufall überlässt. Er ist im übrigen neben einigen anderen Auflagenobjekten in dieser Ausstellung zu erwerben, für 6,66 Euro, versteht sich. Auch seine Darstellung als Blinder der „keine Kunst mehr sehen kann“ gehört zu seinen Klassikern. Er kritisiert damit den Kunstbetrieb mit seinen hohen Preisen, Auswahlverfahren bzw. Vorschreibun-gen. Zwei ausschließlich aus roten Markierpunkten bestehende Bilder ironisieren das Bezeichnungsverfahren beim Bilderverkauf. Nur wer viele rote Punkte hat, ist erfolgreich. Ulrichs Oberkörper steht als Bronzebüste auf einem Sockel, sein Unterteil dagegen trägt einen Sockel, eine Kritik der oft als abgehoben empfundenen Sockelpräsentation – ohne dass Ulrichs für seine Arbeiten auf diesen verzichten möchte. Viele Arbeiten beschäftigen sich mit dem Thema des Bildermachens, mit der Herstellung von Kunst. So wird beispielsweise anstelle eines üblichen Bildes ein Keilrahmen ausgestellt, der Bildrückseite als Vorderseite präsentiert. Indem dieser im Museum hängt, wird er zur Skulptur und Kunst und stellt damit die Frage, was Kunst denn ist. Oder ein rein weißes Bild, auf dem das Wort „bild“ steht: Die monochrome Malerei war eine wichtige Kunstrichtung im 20. Jahrhundert, Bilder bestanden jeweils „nur“ aus einer Farbe. Ulrichs stellt die Frage, ob dies denn genug sei und schreibt vorsichtshalber Bild auf die Leinwand. Zahlreiche Arbeiten – wie das Lot-Bild, in dem das Lot auf geheimnisvolle Weise nicht in der Senkrechten bleibt, das Wasserwaagen-Bild oder das Bild „Der dehnbare Begriff“ – beschäftigen sich auf ironische Weise mit dem Anbringen von Kunstwerken, das immer mit präzisem Messen und Ausrechnen zu tun hat.

Mit Vorliebe setzt sich Ulrichs mit Sprache auseinander; Sprache, die eigentlich zur Verständigung beitragen soll, aber so oft auch missverständlich bzw. zweideutig ist. Er verwendet Alltagssätze, Sprichwörter, Begriffe oder Redewendungen und führt sie mit dadaistischem Witz, paradoxen „Sinn“-Konstruktionen sowie philosophischem Tiefgang ad absurdum. Nur einige wenige seiner unerschöpflichen Kreationen seien hier genannt: Am Anfang steht das Wörtchen Am ist einer seiner hier nicht ausgestellten Klassiker. „A rose is a rose is a rose“, das bekannte Statement von Gertrude Stein in der Bedeutung, dass „etwas ist, wie es ist“, eine Rose ist eine Rose, egal aus welchem Material, Zusammenhang usw... Ulrichs kehrt dies um und zeigt unter dem gleichen Titel, immer abstrakter werdend: eine echte Rose, eine Plastikrose, das Bild einer Rose und das Wort „Rose“. Er verweist damit auf die unterschiedliche Erscheinungsform von Dingen. Bei Spring, Summer, Autumn and Winter handelt es sich um ein interaktives Bild, das je nach Jahreszeit zu drehen ist; im Moment steht noch der Herbst links oben; am 21.12. sollte das Bild bis zum weißen Winterfeld gedreht werden. Das Neonobjekt „Zwei, zu zweit“ ist hervorgegangen aus der Beschäftigung mit der Zahl 2, die alleine da stehen kann und zu zweit ein Herz der Zusammengehörigkeit bildet, was durch unterschiedliche Beleuchtungen akzentuiert wird. Die Titel der Arbeiten spielen immer eine große Rolle, sie sind häufig interpretierend, aber ebenso oft verweisen sie nicht auf Sinn und Inhalt, sondern führen bewusst in die Irre, täuschen und ironisieren.

Ulrichs hat zahlreiche Arbeiten geschaffen, die sich auf die Natur beziehen; so z.B. der bereits erwähnte Erd-Kopf. Vielfach setzt er sich auch kritisch mit dem Umgang des Menschen mit der Natur auseinander, wobei er Natur und Künstlichkeit in Kontrast setzt, wie in der frühen (1970/71) Fotoserie „Baum-Plomben und -Prothesen (Baumchirurgische Eingriffe)“, in denen die künstliche, also menschliche Hand die Natur verarztet und Platanen zu skurrilen Objekten umfunktioniert hat. Die Rinde der Platanen, die Camouflageartig aussieht, führt uns zu dem großen Werkkomplex, in dem Timm Ulrichs den Tarnstoff eingesetzt hat. Wenn er nun etwas mit Camouflage-Stoff überzieht oder bemalt, wird weniger verdeckt, als vielmehr etwas hervorgehoben – ein Sichtbarmachen der Unsichtbarkeit! In der Ausstellung hängt das getarnte Bild, das durch das Aufrollen eines Camouflage-Stoffs beliebig weit getarnt werden kann. In dem getarnten Schachspiel „Mit Kriegslist und Tücke“ (1974/94), in dem sowohl die Krieger-Schachfiguren als auch das Schlacht-/Spielfeld mit Tarnmuster überzogen sind, wird eine strategisch erfolgreiche Schlacht bzw. ein Spiel unmöglich gemacht.– Desweiteren gibt es von ihm Naturkunst-Objekte, die in einer Art „Gemeinschaftsproduktion“ mit der Natur entstehen, wie die „Bienenwaben-Wachscollage“ (1963/72). Hier hat der Künstler einen Keilrahmen, üblicherweise Träger der Leinwand eines Kunstwerkes, in einen Bienenstock gestellt, um von den Bienen Wachsarbeiten hineinarbeiten zu lassen. Zahlreiche Arbeiten hat der studierte Architekt Ulrichs zum Thema „Haus“ angefertigt; Modelle, die zum großen Teil auch im öfentlichen Raum oder im Kontext einer Ausstellung ausgeführt wurden. Hier im Nexus sind Fotografien und Modelle von Situationen ausgestellt, in denen Häuser aus Blech oder Sperrholz – das Einflächenfalthaus ist z.B. 3x3x3m groß – in die skurrilsten Positionen zwischen Künstlichkeit (Architektur) und Natur gestellt wurden; sie sind aus einer Fläche gefaltet, in Bäume eingepasst, von Bäumen durchwachsen, immer das Verhältnis von natürlich und künstlich austaktierend. Von der Architektur geht’s weiter ins Innere von Häusern. In der großen vielteiligen Fotoserie „Die Welt im Wohnzimmer. Das Fernsehgerät als Sockel und Hausaltar“ sind uninszenierte, bürgerliche Dekorationen auf Fernsehapparaten in Altersheimen gezeigt. Die Oberkante der Geräte ist immer in der Mitte und teilt die Bilder damit in zwei Hälften. Die untere stellt jeweils eine vom TV ausgestrahlte politische, kulturelle oder andere Situation aus dem aktuellen Tagesgeschehen dar. In diesen Arbeiten prallt die „Idylle“ der kleinen Welten auf die Realität der Welt von außen, die man sich ins Wohnzimmer holt.

In vielen seiner Arbeiten und auch schon in den frühen Jahren seiner künstlerischen Tätigkeit setzt sich Ulrichs mit Existenz bzw. Leben und Tod auseinander, immer mit Schalk, Irritationen und Verdrehungen. Zum Teil führte er auch sehr extreme Aktionen durch, in denen er seinen Körper ein-setzte. So präsentierte er sich als nackter Blitzarbeiter oder er ließ seinen Körper, wie bereits gesagt, tätowieren. 1981 wurde auf sein rechtes oberes Augenlid THE END tätowiert – damit hat er die Basis für sein letztes Kunstwerk geschaffen, das erst dann vollkommen ist , wenn er die Augen zum letzten Mal schließt. Ulrichs hat schon in jungen Jahren (1969) einen Grabstein entworfen mit dem Text Denken Sie immer daran, mich zu vergessen – eine absurde Aufforderung, die nicht durchführbar ist, mit der er seine Person aber umso mehr in unser Gedächtnis eingräbt. Ebenso absurd ist sein Credo unter seiner Gips-Maske: „Ich glaube an ein Leben vor dem Tod“ – eine kritische Auseinandersetzung mit einem der wichtigsten Inhalte des christlichen Glaubens, der Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod. In der Mitte der Halle ist die Installation „Außer Atem“ (1989/95/96) zu sehen, bestehend aus sieben Schaukelstühlen, die durch elektronisch gesteuerte Ventilatoren in Bewegung versetzt werden. Sie verweisen auf die Atemlosigkeit des Alters.

 

 

 

 

 
Bildunterschriften:

01 Ausstellungsansicht Galerie, Foto: Matthias Reichelt

02-05 Ausstellungsansichten, im Vordergrund: Installation „Außer Atem“, 1989/95/96, grau lackierte Schaukelstühle, durch 7 elektronisch gesteuerte Ventilatoren in Bewegung versetzt, je
 95 x 58 x 81 cm, Fotos: Matthias Reichelt

06 „Homage to Gertrude Stein – A rose is a rose is a rose is a rose", 1972/77 Objekt, Holzkasten, echte Rose, Kunststoffrose, Foto, 40 x 75 x 7,5 cmm, Foto: Matthias Reichelt

07 „Denkmal der gestürzten Denkmäler“, 1996/98. Modell, M 1:10, zum Wettbewerb »Denkmal 17. Juni 1953«, Berlin,

50 x 50,1 x 50,1 cm

08 „Wurzel-Werk“, 1980/89/2010. Der Künstlerkopf als Pflanztopf: 
in Beton-Hohlformen gewachsene Buchsbäume,

Foto: Siegfried Renvert und Gisela Schäper

09 "Im Sockel – vom Sockel“, 1981/90, Bronze-Abguss in zwei Teilen auf bzw. unter MDF-Sockeln, je 185 x 50 x 50 cm

10 „Mit Kriegslist und Tücke“, 1974/94. Das Schachspielfeld als Kriegsschauplatz, 
die Schachfiguren mit Kriegsbemalung. Schachbrett, 2,5 x 51,6 x 51,6 cm, und -figuren, 5– 9,5 cm hoch, mit Tarnfarben bemalt,

Foto: Matthias Reichelt