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Akatalepsia – Robert F. Hammerstiel & Julia Purgina

Korridor – Raum für aktuelle Kunst
Hertha-Firnberg-Str. 10, 1110 Wien
 
Eröffnung: Montag, 13. November 2023, 19.00 Uhr
Einführende Worte: Petra Noll-H., Kuratorin

Musik: Maria Frodl (Cello) & Robert Gillinger (Kontraforte) spielen Ausschnitte aus dem Werkzyklus Lunarium von Julia Purgina / Präsentation ihrer neuen CD

Ausstellungsdauer: 16.11.–16.12.2023

Talks am Montag, 11.12., 18.30 Uhr: Julia Purgina über ihre Komposition Akatalepsia mit Audio-Ausschnitten aus dem Stück. Robert F. Hammerstiel über seinen Werkkomplex Akatalepsia.

 
Rede zur Ausstellung, Petra Noll:

Dies ist die zweite Ausstellung im Korridor mit dem Künstler Robert F. Hammerstiel und der Komponistin Julia Purgina. Der gemeinsame Ausstellungstitel ist „Akatalepsia“ (griech.: Unerfassbarkeit; dt. Akatalepsie). In der Philosophie bedeutet dies die Unmöglichkeit, das Wesen der Dinge zu begreifen und zu benennen. Inspiriert von Julia Purginas Orchesterwerk gleichen Titels hat Robert F. Hammerstiel einen Werkgruppe so benannt und die Künstlerin hierher zu einer gemeinsamen Ausstellung eingeladen. Auch in Zukunft wird im Korridor diese Kombination von Musik und bildender Kunst angeboten werden.

Wir beginnen mit der musikalischen Aufführung aus dem Werkzyklus „Lunarium“ von der in Deutschland geborenen, in Wien lebenden Komponistin Julia Purgina. Ihr Fokus verlagerte sich immer mehr vom Spielen eines Instruments, der Bratsche, auf das Komponieren. Hier hat sie die bereits ein umfangreiches Werk geschaffen hat mit zwei Opern, mehreren symphonischen Werken, Solokon-zerten mit Ensemble, Ensemblestücken usw. Sie hat an namhaften Festivals teilgenommen und schon zahlreiche CDs veröffentlicht. Julia Purgina ist zudem Professorin für Musiktheorie an der „Musik-und-Kunst-Privatuniversität“ Wien und Lehrbeauftrage für das „Ensemble Neue Musik“ sowie Vizedirektorin für Kunst und Lehre an der Anton Bruckner Privatuniversität in Linz.

Die heute spielende Musikerin und der Musiker sind Maria Frodl am (Violin)cello und Robert Gillinger am Kontraforte. Maria Frodl studierte in Wien und schloss ihr Studium an der Kunstuniversität Graz mit Aus-zeichnung ab. Sie ist seit 1995 Solocellistin des Orchesters der Vereinigten Bühnen in Wien. Neben ihrer intensiven solistischen und kammermusikalischen Beschäftigung mit zeitgenössischer Musik, u.a. als Mitglied im Ensemble Reconsil tritt sie auch als Improvisatorin in Erscheinung. Sie ist zudem als professionelle Fotografin tätig. Robert Gillinger studierte bei Milan Turkovic, einem international bekannten Fagott-Solisten, und gewann danach ein Probespiel für Fagott und Kontrafagott bei den Wiener Symphonikern. Als Musiker interessiert er sich neben dem Standardrepertoire für sein Instrument insbesondere für selten gespielte Werke aus der alten und neuen Musik. Er ist Senior Lecturer an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Die beiden spielen aus dem Werkzyklus „Lunarium“, zu dem Julia Purgina durch ein Lunarium, ein sich drehendes Modell im Globenmuseum der Wiener Hofburg, das Kreisen des Mondes um die Erde zeigt, inspiriert wurde. Der Werkzyklus „Lunarium“, begonnen 2008/09, besteht aus Solostücken für verschiedene Instrumente.  

Die heute zur Aufführung kommende Duo-Kombination findet zum ersten Mal statt, obwohl es bereits am Anfang der Kompositionsreihe die Idee gab, sie überlappen zu lassen. Es ist also eine Uraufführung! Sie beginnen mit dem Lunarium für Kontraforte (Weiterentwicklung des Kontrafagotts). Das Ende ist zugleich der Anfang vom Cello-Lunarium. Sie umkreisen sich und docken aneinander an. Damit entsprechen sie dem drehenden Modell, das ihnen zu Grunde liegt.

(Musikbeitrag)

Zum Ausstellungstitel „Akatalepsia“: Julia Purgina hat 2018 ein ungefähr 20-minütiges Orchesterwerk, eine Auftragsarbeit für das Festival Wien Modern, geschaffen. Es wurde gespielt von den Wiener Symphonikern in großer Besetzung und ist auch auf der neuen CD, die hier angeboten wird, zu finden. Wien Modern, das wichtige Festival für zeitgenössische Kunst, hatte damals das Thema „Sicherheit“. Zum Titel „Akatalepsia“ kam Purgina bei der Reflektion darüber, was denn Sicherheit bedeutet und wo diese aufhört. „Akatalepsia“, die Unmöglichkeit, das Wesen der Dinge zu verstehen, kann zu Unsicherheit und – damit verbunden – Zweifeln führen, zwei sehr elementaren Gefühlen. Von den Zweifeln ist sie schnell zur Mythologie gekommen: In dem von existentieller Stimmung getragenen Werk treiben die griechischen Götter des Schlafes, des Verhängnisses, des Untergangs und des Todes ihr Unwesen. Letztlich senken sich vier Todesengel von der Orgelempore in Form von vier Geigen, die barocke Seufzermusik spielen, herab. Die ungewöhnliche Reduktion des Orchesters auf vier Geigen ist ein bewusstes Spiel mit der Unsicherheit, die eintritt, wenn vorgegebene Wege verändert werden, eine Irritation, die Neues eröffnet. Wenn das Wesen der Dinge schon nicht verstanden werden kann, so sieht doch Purgina in der Musik die Möglichkeit, diese sinnlich zu erfahren. So ist sie wohl auch ein der poetischsten zeitgenössischen Komponistinnen.

Robert F. Hammerstiels Arbeiten, Fotos und Videos, nehmen einerseits inhaltlich dieses Kreisen, das die Aufführung von „Lunarium“ geprägt hat, als unsere existenzielle Bestimmung auf, andererseits beschäftigt sich seine Werkgruppe „Akatalepsia“, ebenso wie Julia Purgina, mit der Begrenztheit menschlicher Erkenntnis und der Unmöglichkeit, das Wesen der Existenz vollständig zu erfassen. Dadurch geraten die Menschen in einen unsicheren Zustand. Ihre Ausgesetztheit in einer Welt, die sie nicht wirklich verstehen, ihre Angst vor dem Ungewissen und auch die hieraus resultierenden Ersatzwelten (in anderen Serien), die sie sich schaffen, sind Themen, die ihn schon lange beschäftigten. In der Fotoserie Dark Picnic (2019–2022) liegen Menschen in der Dämmerung in verschiedenen Körperstellungen am Boden, so, als wären sie gerade „herabgefallen“ in diese Bilder. Ihre Situationen geben Rätsel auf: Leben sie der sind sie tot, geht es ihnen schlecht oder gut? Die gewählte Zeit, die Dämmerung, die Zeit zwischen Tag und Nacht, ist geprägt von Veränderung und Transformation, die Stimmung ist geheimnisvoll und düster, unsere Sehfähigkeit ist eingeschränkt. Diese Zeit ist geeignet, unseren Schwebezustand, die Unsicherheit zu charakterisieren. Die Serie stellt existenzielle Fragen über das Leben, den Tod, die Bedeutung des Seins und die Suche nach Sinn.

Dies gilt ebenso für die 5-teilige, je 3-minütige Videoserie Es soll uns doch gelingen (2019–2022), die als Beamerprojektion im hinteren Raum gezeigt wird. Auch hier sind Gärten in der Dämmerung zu sehen, dieses Mal ohne Menschen. Man sieht jeweils eine Sprinkleranlage in Betrieb und hört deren Zischgeräusche. Eine Bewässerungsanlage sorgt einerseits für Ordnung und schönen Pflanzenwuchs, andererseits symbolisiert sie ein routiniertes, sich immer wiederholendes Tun. Auch hier herrscht eine Stimmung der Verunsicherung; alles ist fragil und vergänglich. Und trotzdem „soll es uns gelingen“…

Im Raum verteilt finden sich weitere sieben, meist sehr kurze, weitgehend neue Videoarbeiten. Sie sind mit geringem Sound ausgestattet, meist Natur- oder Gerätegeräusche. Links befindet sich eine visuell bewusst platzierte Reihe von 5 Videos: Rechts und links von der mittigen Uhr sind je ein Natur- und außen je ein Video mit sportlichen Aktivitäten zu sehen. Vorne sehen wir in in dem Video So weit wir sind (2020) einen Skirennläufer (Marco Schwarz) knapp vor einem entscheidenden Rennen seine Strecke mit sichtbaren Hand- und Kopfbewegungen nachfahren; dies ist ein übliches Training. Er kommt dabei seiner realen Fahrt auf bis zu 100stel Sekunden nahe. Beim mentalen Training laufen die gleichen neuronalen Prozesse ab wie bei einer praktischen Be­we­­gungs­ausführung. Der Sound ist das Atmen des Sportlers. Der Film visualisiert den Drang des Menschen nach Verbesserungen, spricht aber auch die Begrenztheit unseres Wissens an. Das zweite Video in der Reihe (Was immer es ist, 2021) zeigt einen Insektenschwarm vor einem Waldstück, der sich um sich selbst dreht. Zum Anlocken der Weibchen bilden die Männchen oft riesige Tanzschwärme. Aber auch diese Sequenz, das ewige Drehen, rekurriert auf das sisyphushafte Sein, die Wiederholungen mit der Frage nach dem letzten Sinn. Das dritte Video, Der Lauf der Dinge (2019) zeigt eine Wanduhr, die sich fehlerhaft verhält. Die menschengemachte zeitliche Ordnung gerät ins Wanken, die Zeit „spielt verrückt“ und wirft uns auf die Frage zurück, was denn ist, wenn unsere Parameter außer Kraft gesetzt sind. Zudem steht die Uhr für Vergänglichkeit und kann uns daran erinnern, wie kostbar die Zeit ist. Das vierte Video in der Reihe, Make Yourself at Home IV, ist eine Arbeit von 2012, die alle diese Themen bereits vorwegnimmt. Gezeigt wird eine endlose, langsame Kamerafahrt entlang einer hohen, blickdichten Thujenhecke in einem privaten Areal. Verwiesen wird auf das Spannungsverhältnis zwischen Unendlichkeit und Begrenztheit, Freiheit und Eingeschlossen-Sein, Sicherheit und Unsicherheit. Aus derselben Zeit ist das Video Warum bin ich nicht überrascht?, eine Schwimmerin schwimmt in ihrem Pool immer wieder aufs Neue gegen die Gegenstromanlage und versucht, ans „Ziel" zu gelangen. Trotz der Wiederholung und möglichen Enttäuschungen gibt sie nicht auf und setzt ihre Bemühungen fort, Erfüllung oder einen Zustand des Glücks zu erreichen. Auch dieses Video steht als Metapher für das Sisyphushafte des menschlichen Tuns. Das Video Was frag ich nach der Welt, 2023 zeigt wieder eine Nachtsituation, ein unruhiges Meer mit einem schwankenden Boot und einem mächtigen Felsen mit einer Burg. Was sehen wir? Empfinden wir die Situation als romantische Vollmondnacht mit einer Sehnsucht nach der Ferne und Abenteuer? Oder verursacht der Blick in die dunkle, unendliche Ferne mit dem schwankenden Boot Bedrohung und Unsicherheit?

Ein guter Abschluss ist das Video What more do you want? I von 2007. Die Tänzerin/Performance-Künstlerin Fumiyo Ikeda stellt eindringlich Fragen an den/die Betrachter/in. Diese sind als Einladung zu verstehen, darüber nachzudenken, ob unser Streben nach immer mehr tatsächlich zu wahrer Erfüllung führen oder ob es nicht wichtiger ist, das bereits Vorhandene zu schätzen. Sie fragt auch, ob wir in Anbetracht des Gesehenen, also der Ausstellung, etwas mitnehmen. Aber vielleicht bleibt von all dem ja nur diese „Akatalepsia“ übrig, eben eine Ungenauigkeit in der Diagnose – wie in der Medizin, wo „Akatalepsia“ genau dafür steht.  

Kontakt und Informationen: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein. / www.kunstnoll.de / www.hammerstiel.net / www.juliapurgina.net

 
 

Bildunterschriften, li. Spalte: Ausstellungsansichten mit Arbeiten von Robert F. Hammerstiel (4. Foto: Beamer-Projektion, aus der Videofilmserie: Es soll uns doch gelingen, 2019–2022, Fünf HD-Videos, je drei  Min., Ton

re. Spalte, von ob. nach unt.:
*Julia Purgina, Akatalepsia for orchestra, Komposition,   2018, Noten (ob.) Robert F. Hammerstiel, Dark Picnic, aus: Akatalepsia, 2019–2023, C-Print auf Aluminium (unt.)

*Konzert bei der Vernissage: Komposition Lunarium von Julia Purgina, hier Robert Gillinger am Kontraforte

*Konzert bei der Vernissage: Komposition Lunarium von Julia Purgina, hier Maria Frodl am Violincello

*Julia Purgina, Komponistin, und Roland Freisitzer, Schriftsteller

* Talk am 11. Dezember 2023, hier Julia Purgina bei ihrer Präsentation der Entstehung der Komposition Akatalepsia